Xenophon: Über die Reitkunst und Der Reiteroberst Zwei bedeutende hippologische Lehrbücher der Antike
Das Pferd fasziniert den Menschen seit Jahrtausenden. Seine Eleganz in der Bewegung, seine Kraft und Stärke sind Dinge, die sogar dem Nicht-Reiter imponieren. So zählt das Reiten zweifellos zu den faszinierendsten Sportarten schlechthin. Schließlich agieren hier zwei unterschiedliche Körper in Harmonie miteinander. Voraussetzung dafür ist allerdings eine langjährige intensive Ausbildung von Pferd und Reiter. Seit jeher werden Reitlehren geschrieben – es gibt eine Unmenge davon. Obwohl wir modernen Menschen inzwischen mehr über unseren Partner Pferd wissen als früher, ist es ausgerechnet die alte Reitlehre des Griechen Xenophon, die jeder Reiter kennen sollte, der von sein Tier ausbildet und Leistung erwartet.
Schon in der frühen Bronzezeit vor mehr als 5.500 Jahren begannen Nomaden in der südrussischen Wolga-Don-Region, das Pferd zu domestizieren (Equus caballus) und bereits kurze Zeit später als Nutz- und Reittier zu verwenden. Die älteste reiterliche Darstellung in Form einer orientalischen Ritzzeichnung ist über 4.800 Jahre alt. Die ersten Krieger hoch zu Ross tauchten aber erst vor rund 3.600 Jahren in der Eurasischen Steppe auf dem heutigen Gebiet Kasachstans auf.
Der Athener Xenophon entstammte einer wohlhabenden Patrizierfamilie und lebte etwa zwischen 430 und 354 vor Christus. Die erste Hälfte seines Lebens fiel in die Zeit des Peloponnesischen Krieges, der zwischen dem Attischen Seebund unter der Führung Athens und dem am Ende siegreichen Peloponnesischen Bund unter Sparta von 431 bis 404 v. Chr. geführt wurde.
Xenophon war ein Schüler des Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.) und betätigte sich als Politiker, Feldherr und Schriftsteller. Im Jahr 401 v. Chr. verließ er Athen und ging von 399 bis 394 v. Chr. nach Kleinasien ins Perserreich. Seit seiner Rückkehr nach Europa 394 v. Chr. schloss er sich verstärkt den Spartanern an und ließ sich im Jahr 386 v. Chr. mit seiner Frau Philesia und den beiden Söhnen Diodoros und Gryllos im Westen der Halbinsel Peloponnes nieder, und zwar auf dem ihm von den Spartanern geschenkten Landgut Skillous in Elis, südöstlich von Olympia. – Nach dem Sieg der Thebaner über Sparta in der Schlacht bei Leuktra 371 v. Chr. floh Xenophon nach Lepreon in Arkadien und schließlich nach Korinth, wo er vermutlich im Jahr 354 v. Chr. im Alter von 76 Jahren starb.
Als Autor bekannt wurde Xenophon durch seine umfangreichen historischen, philosophischen, politischen, ökonomischen und pädagogisch-ethischen Schriften. Daneben verfasste er aber auch Abhandlungen über die Jagd und die Abrichtung von Jagdhunden („Kynegetikos“), über die Aufgaben eines Reiterkommandanten („Hipparchikos“) und über die Reitkunst („Peri hippikes“). Die beiden letzten Traktate, die der begeisterte Pferdezüchter in Korinth niederschrieb, gelten als Grundlagen der Hippologie (Wissenschaft vom Pferd) und haben bis heute in allen wesentlichen Aussagen unverändert Gültigkeit. Aus seinen langjährigen reiterlichen Erfahrungen heraus wollte Xenophon „eine Anleitung zum besten Umgang mit Pferden auch gerade für die jüngeren unter meinen Freunden aufzeichnen“.
Das von Xenophon um 360/350 v. Chr. verfasste Werk „Peri hippikes“ ist nach der gleichnamigen fragmentarischen Schrift des Pferdezüchters und Kavallerieoffiziers Simon von Athen aus der Zeit um 480 v. Chr. die zweitälteste Reitlehre der Welt. Xenophon teils sehr detaillierte Ausführungen bezogen sich vor dem Hintergrund antiker Kriegsführung auf die Ausbildung des Reiters und des Pferdes für den Krieg, lassen sich aber bis heute grundsätzlich von allen Pferdefreunden anwenden. Dem Freund der Pferde (philippos), der Jagd (philokynegos) und der Taktik (taktikos) ging es zwar in erster Linie um männliche Pferde und ihre Tauglichkeit für einen Kriegseinsatz, aber auch friedliche Aufgaben zum Beispiel bei Prozessionen oder repräsentativen Paraden waren Gegenstand seiner Untersuchungen.
Xenophon verstand sich als Experte der Reiterei und setzte bei seinen Lesern ein gehöriges Maß an Fachwissen voraus, was man unter anderem an der unkommentierten Verwendung von Fachbegriffen erkennen kann (z. B. metakynion = Fessel; akromia = Widerrist; ischia = Kruppe; oura = Schweif; astragalos = Sprunggelenk; kynepous = Köte usw.). Die meisten Begriffe für die Körperteile eines Pferdes (hippos) übernahm er aber von den entsprechenden menschlichen Bezeichnungen.
Die Aufsitzstelle beim Pferd nannte Xenophon hedra, was der heutigen Sattellage entspricht, aber in der Antike kannte man noch keinen Sattel, sondern nur ein Reitdecken und Reitkissen als Auflagen auf dem Pferderücken (ephippios oder epochos). Auch Hufeisen und Steigbügel waren unbekannt. Die Hufsohle bezeichnete er als Schwalbe (chelidon), weil der Hufstrahl wie ein Schwalbenschwanz aussieht. Für das Zaumzeug (chalinos) und damit für die Ausbildung eines Pferdes von besonderer Bedeutung war für Xenophon der zahnfreie Raum zwischen Schneide- und Backenzähnen, den er Lade (gnathos) nannte.
Xenophon beschrieb in seiner Reitlehre auch verschiedene Reitübungen (hippasiai). Besonders wichtig in der Reitkunst (hippike) waren die feinen Hilfen (semeia), welche der Reiter dem Pferd über die Zügel (heniai) und das Mundstück (stomiom) des Zaumzeugs (chalinos) übermittelte. Zusätzlich wirkte der an der Ferse des Reitstiefels angebrachte Sporn (myops) auf die Weichen des Pferdes.
Xenophon befasste sich auch ausführlich mit der Exterieur-Beurteilung, dem Erwerb, der Haltung, der Fütterung und der Pflege eines Pferdes vom Fohlen bis zum Erwachsenenalter. Pferdekrankheiten wie zum Beispiel der „Verschlag“ als Folge falscher Fütterung und Beanspruchung interessierten ihn nur am Rand, dafür aber die Waffen und die Rüstung des Reiters, die im antiken Griechenland erhebliche Kosten verursachen konnten. Er beschrieb ausführlich die Schulung des Reiters bis hin zu Spezialkniffen des militärischen Reiterkampfs. Auch die Götter durften in seinen Betrachtungen nicht zu kurz kommen. So beginnt der erste Satz in Xenophons Schrift „Der Reiteroberst“ aus der Zeit um 362 v. Chr. mit den Worten: „Zuerst opfere und Bitte die Götter um die Gnade.“
Der große Historiker und Reiterführer (Hipparch) Xenophon betrachtete erstaunlicherweise bereits vor fast 2.400 Jahren – wie bereits Simon von Athen – das Pferd als Partner des Menschen und lehnte jede Gewalt im Umgang mit Pferden ab: „Was unter Zwang erreicht wurde, wurde ohne Verständnis erreicht.“ Um sich auch im Ernstfall auf sein Pferd verlassen zu können, sollte man es stets gut behandeln und nur ganz selten Mindeststrafen anwenden. Die gewaltfreie Erziehung und Ausbildung eines Pferdes sollte auf dem Belohnungsprinzip basieren und seinen natürlichen Fähigkeiten und Verhaltensweisen entsprechen. Nur eine harmonische Einheit von Pferd und Reiter führt zu einer verlässlichen Partnerschaft: „Dein Pferd sei zuverlässiger Freund, nicht Sklave.“ Anstatt das Pferd beispielsweise zu bestrafen, wenn es nach dem Menschen beißt oder tritt, wurde von Xenophon empfohlen, sich dem Tier nur von der linken Seite zu nähern, beim Führen Abstand zu halten und eventuell einen Beißkorb zu verwenden, der dem Pferd nicht sonderlich schadet und den Menschen gleichzeitig vor dessen Attacken schützt.
Die zeitkritischen und innovativen Ansätze Xenophons erscheinen uns heute umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Oberschicht in der griechischen Antike aus reiterlichem Unvermögen häufig brutale Reitmethoden und quälende Zäumungen anwendete, um das Pferd zu unterwerfen. Um die Psyche und die Mentalität eines Pferdes kümmerten sich zuerst Simon von Athen und Xenophon. Gleichzeitig erfahren wir dadurch etwas über die ethischen Grundlagen guter Menschenführung. Der Historiker Xenophon vermittelt uns ganz nebenbei auch ein sehr anschauliches Bild des Lebens im antiken Griechenland.
Xenophons fundamentale und komplexe Lehrbücher „Peri hippikes“, auf Deutsch „Gymnasium des Pferdes“, und „Der Reiteroberst“ wurden zur Basis der klassischen Reitkunst der Renaissance und des Barock (vor allem des 16. bis 18. Jhs.) mit ihrer „Hohen Schule“ sowie zur Grundlage des modernen Dressurreitens.
In seiner Abhandlung „Der Reiteroberst“ („Hipparchikos“) aus der Zeit um 362 v. Chr. wurde Xenophon prophetisch, als er schrieb: „Wenn jemand sich wünschen würde, fliegen zu können, so gibt es nichts unter den menschlichen Dingen, was diesem näher käme als das Reiten.“ Jeder begeisterte Reiter wird dies nachvollziehen können.
Von Jutta Reichwein-Weil und Dr. Bernd A. Weil