Das Pferdeland Ungarn
Aus der Ferne ist Hufgedonner zu hören, schon bald nähert sich ein Gespann aus fünf Rappen, die „ungarische Post“, und prescht an Zuschauern vorbei.
Ein Pferdehirt in einem prächtigen blau-schwarzen traditionellen Kleid steht auf dem Rücken der beiden hinteren Pferde und lenkt so das Gespann.
Eine solche Vorführung kann man immer wieder in der Hortobágy Puszta, im größten Nationalpark Ungarns, sehen. Das Schutzgebiet wurde 1973 mit dem Ziel gegründet, die ehemalige Pusztalandschaft, Brut- und Nahrungsplätze der reichen Vogelwelt, alte ungarische Haustierrassen: Zackelschaft, Graurind und Noniuspferde und die Hirtentradition aufrechtzuerhalten. Zurzeit leben etwa 200 Hirtenfamilien hier wie früher von der Zucht alter Rinder-, Schweine- und Schafsrassen. In der Tat ist die Schau für den Pferdehirten, der Csikos heißt, nur ein Nebenjob. Der Csikos ist immer noch hauptberuflicher Hirt und Viehzüchter und verbringt den ganzen Tag in wilder Weite.
Ungarn (Magyaren) gehören zu den eurasischen Reitvölkern. Ende des 9. Jahrhunderts trafen sie im Karpatenbecken ein und brachten eine entwickelte Reitkultur mit. Das erste Gestüt stellten Magyaren schon im Jahr 857 auf der Insel Csepel in Budapest auf die Beine, aber die Blütezeit der ungarischen Pferdezucht war erst Ende des 18. Jahrhunderts, als 1784 eine Verordnung auf Befehl von Kaiser Josef II. zur Gründung der königlichen Gestüte unterzeichnet wurde. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts besaß Ungarn mehr als zwei Millionen Pferde und die bedeutendsten Gestüte Europas: Mezöhegyes, Bábolna und Radautz (nun in Rumänien). Allein auf dem Mezöhegyes standen zu Spitzenzeiten bis zu 12.000 Pferde. Den rasanten Pferdezuchtaufschwung stoppten beide Weltkriege sowie die kommunistische Diktatur. Der Pferdebestand ging dramatisch zurück und sank bis 1990 auf schließlich 85.000 Tiere. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks strebten die alten wiederaufgebauten Nationalgestüte und engagierte Privatzüchter, die namhaften ungarischen Rassen wie Lipizzaner, Gidran, Nonius, Kisberi, Furioso-North-Star zu erhalten und zahlenmäßig zu stärken. Zu diesen Gestüten gehört auch Mezöhegyes, das zu den ältesten erhaltenen Gestüten Europas zählt. Einst züchtete man hier vier verschiedene Rassen: Nonius, Furioso-North-Star, Gidran und ungefähr 100 Jahre später das Sportpferd.
Derzeit sind nur Nonius und das ungarische Sportpferd im Gestüt eingestallt. Nonius, die erste und wichtigste ungarische Pferderasse, verdankt ihren Namen dem französischen hellbraunen Hengst Nonius, den Soldaten 1815 aus Frankreich als Kriegsbeute mitbrachten. Er war nicht besonders hübsch anzusehen. Aber Lipizzaner verbesserten seine Gänge, Kladruber steuerten vor allem seine Größe bei, Vollblüter verliehen ihm ein edles Exterieur. Daraus entwickelte sich die Rasse zu einem Allroundpferd. 30 Mitarbeiter kümmern sich heute um mehr als 200 Pferde, trainieren sie für Shows und Rennen. Außerdem wurde auf dem Gestüt Mezöhegyes ein Grundstock der ungarischen Lipizzaner- Zucht gebildet. Während der Napoleonischen Kriege gewährte das Gut einer Lipizzaner-Herde aus Lipica Zuflucht. Als 1815 die Herde ins Stammgestüt zurückkehrte, blieb ein Teil des Bestandes im Mezöhegyes. Um die Eigenschaften der Lipizzaner zu bewahren, suchte man das richtige Klima und eine passende Landschaft. Seit 1950 leben die ungarischen Lipizzaner (nun etwa 280 Tiere) in Herdenverbänden auf großen Flächen des Naturschutzgebietes Szilvasvarad und werden traditionell von Csikos gehütet. Jährlich findet auf dem Gestüthof ein großes Lipizzaner-Festival statt, das als das schönste in Europa gilt.
Einziger Austragungsort für Wettkämpfe im Distanzreiten ist das Arabergestüt Bábolna (1789). Seitdem Behörden 1816 entschieden, in Bábolna die Stuten nur von Originalarabern decken zu lassen, bleibt Bábolna der Araberzucht treu. Zahlreiche staatliche Ankaufexpeditionen zogen nach Syrien und Ägypten, um echte arabische Stammväter zu kaufen. 1836 kam der berühmte Hengst Shagya in Zucht, eine Mischung von Eleganz, Gelehrigkeit und Schnelligkeit mit großer Belastbarkeit und außerordentlicher Gutmütigkeit. Shagya wurde als Deckhengst benutzt, so dass sein Blut in vielen ungarischen Pferden steckt. „Shagya-Araber“ heißt die ungarische Araberrasse, nachdem sie 1978 von der WAHO als eigenständige Rasse anerkannt wurde. Der Shagya-Araber ist meistens größer und stärker als der Vollblutaraber, den man als einen Diamanten unter den Pferden bezeichnet. Der reinrassige Shagya-Araber, ein Brillant unter den Pferden, ist heutzutage mit nur 2.000 bis 3.000 Individuen weltweit registriert.
Der Mut, die Schnelligkeit und die Mobilität der ungarischen Pferderasse und ihrer Reiter sind sprichwörtlich. Die hervorragenden Reiter Ungarns gewinnen weltweit Preise in der Dressur und im Gespann. Unter ihnen Vilmos und Zoltán Lázár, mehrfache Weltmeister im Gespannfahren. In Südost-Ungarn in der Nähe von Gödöllö schufen die Brüder den Reitpark „Lazar“ mit Pferden (vor allem Lipizzaner), ungarischer Küche, gutem Wein und Musik. Auf dem Bauernhof leben seltene heimische, vom Aussterben bedrohte Haustiere. Auch die einzige traditionelle Kaltblutrasse, Ungarns Murinsulaner, ist in ihrer Existenz hoch gefährdet. Im Land verblieben rund 45 bis 55 Tiere. Ungarische Züchter machten es sich zur Aufgabe, geeignete Kreuzungspartner für die Rasse zu finden. Und sie haben sie gefunden. Ein ideales westliches Pendant des Merinsulanerpferdes ist das schweizerische Freibergerpferd. Ende Januar 2012 kamen der 10-jährige „Versace“ und der 20- jährige „Lorambo“ im Örségi-Nemzeti-Nationalpark zum Einsatz. Ungarn ist ein ausgezeichnetes Land für das Reiten. Durch vielfältige attraktive Angebote gelingt es den Reitbetriebsbesitzern, verschiedene Interessen der Pferdefreunde unter einen Hut zu bringen: Reit- und Fahrunterricht, Geländereiten, Jagdritte, Reitervorführungen, Planwagen-/Kutschenfahrten, Reiten, therapeutisches Reiten und Reittouren. Die meisten Reittouren werden witterungsbedingt zwischen März und Oktober veranstaltet, im November beginnt die Saison der Jagdritte und dauert bis Januar. In den übrigen Monaten können die Pferde als Schulpferde arbeiten. Manche Betriebe spezialisieren sich auf Reitervorführungen. Nach wie vor ist die „Ungarische Post“ ein Höhepunkt der Schau.
Trotz dem wachsenden Interesse am Reiten in Ungarn mangelt es hier an sachkundigen Trainern. Nur in jedem fünften Reitunternehmen steht ein ausgebildeter Reitlehrer zur Verfügung. Für die Ausbildung des Fachpersonals wurde die Pettko-Szandter-Tibor-Internatsschule in der Nähe des Gestütes Bábolna gegründet. Die Ausbildung dauert drei Jahre. In den ersten zwei Jahren werden Schüler zum Pferdewirt ausbildet; im dritten erfolgt die Berufsausbildung zum „Bereiter“ mit den Schwerpunkten Pferd- und Reiterausbildung. Die Nähe zum Gestüt Bábolna ermöglicht Theorie und Praxis optimal miteinander zu verbinden.
Zu alledem führen die Schulen voraussichtlich ab 2013 das neue Unterrichtsfach „Reitkultur“ ein. Das Fach soll Anatomie des Pferdes, Ernährung und Tradition der Pferdezucht beinhalten. Und selbstverständlich sollen die Kinder reiten lernen.
Text von Natalia Toker
Fotos von Alexander Toker