Almauftrieb in Georgien: Unterwegs mit tushetischen Nomaden im Hochkaukaus
Jedes Jahr im Frühjahr treiben tushetische Nomaden im äußersten Südosten Georgiens ihre Herden von den Steppen Vashlovanis zu den saftigen Wiesen im Hochkaukasus.
250 Kilometer über steile Pfade und halsbrecherische Pässe, die in sechs Tagesetappen im Sattel zurückgelegt werden müssen. Gastreiter dürfen die Dschigits, die georgischen Cowboys, bei dem rauen Abenteuer begleiten.
Das sind sie, diese Orte in Georgien, an den Südhängen des Großen Kaukasus, wo die Pferde frei herumstreifen. Es ist früh am Morgen in Tushetien. Der Sommertau hängt in den Blüten und Blättern. Soso Shetidze, 42 Jahre alt, tushetischer Pferdemann, sucht sein Fernglas, um zu schauen für welchen Berghang sich seine rund 60 Pferde umfassende, halbwild lebende Herde, heute entschieden hat. Das Gras ist bekanntlich auf der anderen Seite immer grüner, auch im Kaukasus. Die gemischte Herde hat daher heute den Südhang unterhalb des Hauptdorfes Omalo gewählt. Dort genießen sie gerade die Bergwiese und scheinbar auch den Ausblick auf Sosos Heimatdorf Kumelaurta. Ein entspannter Tag für Soso, denn er muss daher nur rund zehn Kilometer reiten, um sie wieder etwas näher ans Dorf zu holen. Die Wölfe und Bären halten sich weiter oben in den Bergen auf, so dass es auch für die Fohlen sicher ist. Auf dem Rückweg können sie ein Bad im Fluss nehmen und sich ein wenig von der Wärme des tushetischen Bergsommers erholen.
250 Kilometer,
3000 Höhenmeter
Anfang Juni bringt Soso seine Herde von den steppenartigen Landschaften des Vashlovani Nationalparks in die tushetischen Berge des Hochkaukasus herauf. Gemeinsam mit seinen Pferden hat Soso Kachetien, die Weingegend Georgiens, durchritten und in sechs Tagen 250 km zurückgelegt. Erst Anfang Oktober geht es wieder zurück nach Vashlovani, wo die Pferde und er dann überwintern. Die meisten tushetischen Dörfer sind nur in den Sommermonaten von Ende Mai bis Anfang Oktober bewohnt, wenn die Hirten ihre Herden auf die Almwiesen treiben. Dieser Rhythmus hat Geschichte: Im 17. Jahrhundert bekamen die Tushen für tapfere Kriegsdienste gegen die Perser Winterweidegründe in der georgischen Alazani-Ebene (Kachetien) geschenkt. Darum ziehen sie bis heute zweimal jährlich mit ihren Pferden, Rindern, aber vor allem auch tausenden von Schafen und Ziegen in schweren Tagesetappen über den 2926 m hohen Abano-Pass.
Pferde und Gras
bestimmen das Tempo
So auch Soso mit seinen Pferden. Seit sechs Jahren können Gäste Soso auf dem horsedrive, der sogenannten Transhumance oder dem Almauf- oder Almabtrieb, begleiten und sich fühlen wie ein echter georgischer Dschigit (Cowboy). Geritten wird in sechs Tagesetappen zwischen 40 und 50 km, sechs bis acht Stunden pro Tag. Übernachtet wird am Wegesrand im Zelt, an für die Herde geeigneten Plätzen. Ein Begleitfahrzeug transportiert Gepäck und Ausrüstung, die Pferde und das Grasangebot bestimmen das Tempo und die Übernachtungsorte. Es ist ein raues Abenteuer und ein unvergessliches Erlebnis. Der Treck startet, sobald die einzige Straße nach Tushetien die die Bezeichnung Straße nicht verdient, sondern sich als halsbrecherischer Feldweg mit enormen Steilhängen entpuppt, nach der Schneeschmelze geöffnet und im Oktober mit einsetzendem Schneefall wieder geschlossen wird. Aus der Alazani-Ebene windet sich der Pfad offroad über den Abano-Pass hinauf nach Tushetien, dem majestätischen Kaukasus entgegen. Eine 80 Kilometer lange Strecke, für die man mit dem Jeep bereits dreieinhalb Stunden benötigt. Reiten ist hier definitiv die bessere Alternative.
Das älteste Pferd
läuft mit den Kühen
Vom Fohlen bis zum Rentner, alle sind sie Anfang Juni gemeinsam nach Tushetien aufgebrochen – lediglich Sosos ältestes Pferd darf mit den Kühen zusammen im gemütlichen Tempo laufen und wird auch einen Teil der Strecke auf dem Lastwagen transportiert. Seit Mai herrscht daher Aufbruchstimmung in Vashlovani. Zuerst starten die Schafe Anfang Mai, dann folgen die Rinder und zuletzt die Pferde. Vorfreude schwingt mit, die Hitze der Steppe hinter sich lassend, auf in die Berge mit kühlen Abenden und Unmengen an Wasser. Vashlovani bietet steppenartige Vegetation und bizarre Fels- und Hügelformationen auf einer Gesamtfläche von über 251 Quadratkilometern mit viel Platz – besonders für Galoppritte. Manche sagen, es sei das Afrika Georgiens, ähnlich der großen Savanne. Schildkröten, Goldschakale, Wölfe, Bären, Stachelschweine – es mutet afrikanisch an und liegt doch nur rund vier Flugstunden von Deutschland entfernt.
Seit Oktober waren die Pferde hier in ihrem „Apfelgarten“. Das bedeutet Vashlovani übersetzt und es ist sehr passend. Der 1935 gegründete Vashlovani Nationalpark ist ein streng geschütztes Gebiet mit beeindruckenden Felsformationen. Er befindet sich am südöstlichsten Teil Georgiens in der Region Kachetien an der Grenze zu Aserbaidschan und zeichnet sich durch sehr trockenes Klima aus. Eine Besonderheit sind die wilden Pistazienbäume, die während der Blüte aussehen wie Apfelbäume. Daher auch der Name. Die Äpfel der Pferde haben damit nichts zu tun.
Tushetische Bergpferde
sind Kletterkünstler
Sosos Pferde leben von Geburt an ganzjährig in freier Natur, halbwild im gemischten Herdenverband, und kennen weder Stall noch Reithalle. Mag so manches für Europäer wild und auch manchmal hart anmuten, so gibt es überraschenderweise seit Generationen von Tushen sehr pferdegerechte Gesetzmäßigkeiten in Georgien: Jungpferde werden mit drei Jahren mit dem Sattel vertraut gemacht, jedoch bis zum siebten Lebensjahr nicht mehr als insgesamt 14 Tage pro Jahr als Packpferd oder Reitpferd eingesetzt. Die Tushen leben täglich eng mit ihren Pferden zusammen und haben vielleicht daher ein sehr natürliches Pferdeverständnis – nicht nur beim Knochenwachstum. Sosos Herde ist derzeit die größte in Tushetien und Vashlovani. Die Pferde sind tushetische Bergpferde, eine robuste, regionale Rasse, mit einem Stockmaß bis maximal 150 cm. Tushetische Pferde sind wendig, extrem trittsicher und bergerfahrene Kletterkünstler, die auf den schmalen Schafpfaden in den Bergen richtig aufblühen.
Im Viertaktgang über
Stock und Stein
Lauffreudig und nervenstark haben manche von ihnen von Geburt an eine Besonderheit: Der Iura, eine Viertaktgangart ähnlich dem Tölt der Isländer. In dieser bequemen Gangart tragen sie ihre Reiter unermüdlich über Stock und Stein. Die Ausrüstung besteht aus traditionellen kaukasischen Sätteln mit passenden Wollfilzdecken. Die Sättel haben vorn und hinten eine Metallschlaufe, an der Satteltaschen befestigt werden können. Mit einem Kissen versehen, dienen sie als Reitsattel; ohne Kissen werden sie in den Bergen als Transportsattel für Käse, Salz oder andere Dinge genutzt. Da die wenigsten tushetischen Dörfer mit dem Auto erreichbar sind, kommt den Pferden in Tushetien eine hohe Bedeutung zu. Soso, als echter tushetischer Horseman, pendelt bereits seit Kindesbeinen, wie alle Tushen, zwischen Tushetien im Sommer und Vashlovani im Winter. Mit zwei Jahren saß er das erste Mal auf einem Pferd und lebt seither mit seinen Pferden in den Weiten Georgiens. Soso hat sich auf Höfen in Deutschland und Polen weitergebildet, seine Pferde in der Zeit aber so sehr vermisst, dass er den Rückflug kaum abwarten konnte.
Hoffnungsträger Tourismus
für die arme Region
Nun steht er glücklicherweise wieder auf dem Balkon seines Steinhauses in Kumelaurta in Tushetien und betrachtet stolz seine Herde. Der 2003 eingerichtete Nationalpark Tushetien zählt zu den wichtigsten Schutzgebieten im Kaukasus. Tushetien gilt als einer der letzten wilden Flecken Georgiens. Es grenzt an die georgischen Provinzen Kachetien und Chewsuretien. Im Osten Tushetiens liegt das dagestanische Hochland, im Norden bilden die mächtigen Bergketten des Großen Kaukasus die natürliche Grenze zu Tschetschenien. Die Region umfasst 30 Dörfer, von denen Omalo das größte und Verwaltungszentrum ist. Die Tushen sind größtenteils Hirten und lebten traditionell von den Erzeugnissen ihrer Schafszucht: Tushetischer Käse und tushetische Wolle waren bis weit über die Grenzen Georgiens hinaus als Qualitätsware bekannt und wurden nach Europa und in die Sowjetunion exportiert.
Das war einmal. Nun ist der Tourismus die große Hoffnung für die einkommensschwache Region. Doch wie überall ist auch in Georgien der Tourismus ein zweischneidiges Schwert: Wertvolle Einkommensmöglichkeit für die Einheimischen und gleichzeitig eine große Gefahr für die noch unberührte Natur, für Jahrhunderte alte Traditionen und die Umwelt. Noch ist das Land zwischen Orient und christlichem Abendland ursprünglich und authentisch. Die Pandemie hat Georgien, das überwiegend vom Tourismus und Landwirtschaft lebt und wenig Industrie besitzt, hart getroffen und die einseitige Ausrichtung schonungslos offengelegt. Vielleicht eine Chance für mehr Nachhaltigkeit und einen gesteuerten Besucherzuwachs.
Das alles beschäftigt die Herde und Soso heute jedoch nicht. Drei Monate liegen noch vor ihnen, voller Sommerwiesen, alten Schieferhäusern und Wehrtürmen. Wenn in der Ebene die Weinlese beginnt, machen sie sich wieder auf in ihren Apfelgarten. Ganz georgisch, denken sie aber nicht an morgen. Für heute reicht der Südhang.
Kontakt:
Shetidze Tushetian Horses
Georgia / Caucasus
Web: reiteningeorgien.jimdofree.com
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Phone/WhatsApp: +995 598 695153
„Stallgeflüster“ / Ira Hartmann