Die Lady mit dem Schimmel-Fimmel
Schöffengrund – Wellington schreitet, gehüllt in eine Decke aus dunkelgrünem Samt, über die schmale Straße. Drüber liegt locker ein goldenes Tuch, mit einem Knoten unterm Pferdebauch zusammengebunden.
Ein rotes Halfter mit Glitzersteinchen und ein perlenverziertes Fliegenmützchen schmücken seinen Kopf. Der rote Federpuschel zwischen den Ohren wippt bei jedem Schritt. Neben ihm: Liselotte Brendel im blütenweißen Spitzenkleid mit rotem Tuch, passend zum Puschel. Ein gewohntes Bild für die Anwohner und Pferdebesitzer auf den Feldern in Schwalbach. Das wunderbare Schauspiel kurz drauf in der Reithalle ist aber nur auserwählten Zuschauern und manchmal den Dorfkindern vergönnt: Wenn die fröhliche Pferdebesitzerin zeigt, was sie ihrem Wellington so alles beigebracht hat. Nicht mit strenger Dressur und Drill. Sondern mit Geduld, Liebe und Vertrauen.
Vor der Vorführung wird der Schimmel ausgiebig geherzt und gelobt: „Komm Schatzimaus! Willst du den Herrschaften mal zeigen, was der schöne Welli alles kann? Wie er den Teppich ganz toll aufrollt?!“ Welli stupst mit seinem Kopf gegen die Teppichrolle, vier, fünfmal, bis der Läufer ausgerollt ist. „Ja guuuut! Fein machst du das mein Schätzchen! Sehr schön!“ Welli wiehert freudig – wie immer, wenn er gelobt wird.
Die Zuschauer staunen, lachen, klatschen. Manche ungläubig, andere amüsiert. Wellington verneigt sich, bedankt sich mit einem Knicks. Und rollt den Teppich wieder zusammen. Zur Belohnung gibt’s Möhrchen, klein geschnitten. Welli fehlen mit seinen 24 Lebensjahren nämlich mittlerweile die Oberzähne. Macht nix. „Er frisst so fein. Von seinen Essmanieren kann sich so mancher Mensch ein Scheibchen abschneiden,“ erklärt Liselotte. Und erzählt strahlend, dass Welli sein geliebtes Bier auch schon mal in einem Schüsselchen auf dem Tisch serviert bekommt, natürlich mit Tischdecke.
Verrückt? Ja. Herrlich verrückt! Denn Liselottes Schimmel-Fimmel zaubert allen ein Lächeln aufs Gesicht, Kopfschütteln inklusive. Egal, ob Pferdekenner oder nicht. Über die Frage, wer von dem ungleichen Paar den anderen mehr um den Finger wickelt, wird heftig diskutiert. Gut aufeinander eingespielt sind sie, das merkt man. „Wenn Welli ein Mensch wäre, wäre er mein Kind. Ein ganz besonderes Kind. Für ihn bin ich seine Mama. Ich bin für ihn sehr wichtig, und er passt auf mich auf. Seitdem ich dieses Pferd habe, bin ich niemals mehr im Urlaub gewesen.“
Liselottes besondere Beziehung zu Pferden zeigte sich schon früh. „Neben meinem Elternhaus in Solms-Oberndorf war eine Schmiede, und ich war oft dabei, wenn die Pferde beschlagen wurden. Ich stand vor den riesigen Gäulen, redete mit ihnen und kraulte sie. Sie waren dann ganz ruhig.“ Wenn der alte Schmied, mit Lederschürze und gezwirbeltem Bart, mit hessischem Dialekt übern Zaun rief: “Is das Klaa do?“ stand Liselotte schon parat. „Er sagte immer: ‚Das Klaa stelle mir vor die Gäul‘, dann halte se still.“ Ihr Berufswunsch war klar: Tierpflegerin im Frankfurter Zoo. Die Eltern schickten sie jedoch auf eine Handelsschule, das Mädchen lernte Industriekauffrau.
Erst 42 Jahre später, mit 60, erfüllt sie sich ihren Lebenstraum: Ein eigenes Pferd!
Auf einem Gestüt bei Würzburg findet sie 2005 Wellington, elf Jahre alt. Ein Turnier- und Kutschpferd, das es sogar mal bis zum Frankenmeister gebracht hatte. Da sie in ihrem Alter nicht mehr anfangen wollte zu reiten, hat Liselotte den Kutschenfahrschein gemacht. Anfangs spannt sie den Wallach noch für Ausfahrten vor ihren Linzer Jagdwagen. Doch in den 13 Jahren, die die beiden nun zusammen sind, ist aus dem Kutschpferd ein Spielpferd geworden. Und das, weil er nach einer Verletzung vier Monate in einer Box in der Tierklinik stehen musste: “Um ihm die Langeweile zu vertreiben, hab‘ ich ihm Märchen erzählt, Lieder vorgesungen und mit ihm gespielt, zum Beispiel mit Luftballons. Wir haben uns einiges ausgedacht, was man zusammen machen kann, wenn man nicht reitet.“ Daraus entwickelten sich verspielte Kunststückchen, an denen der Schimmel ebenso viel Freude zu haben scheint wie seine stolze Mama. Und ob sie ihm den selbst genähten Brokatmantel umlegt oder extra angefertigte Fußballstutzen mit Schal und Fankäppi anzieht (momentan bringt sie ihm das Fußballspielen bei) – Welli macht geduldig alles mit. Am allerliebsten, wenn aus der Stereoanlage Männerchöre ertönen: „Vielleicht hat er früher mal neben einem Männerchor gewohnt,“ lacht Liselotte. „Er liebt Männerchöre.“
Für die Musik in der Reithalle ist Gatte Manfred Brendel zuständig. 35 Jahre sind sie jeweils in zweiter Ehe glücklich miteinander verheiratet. Dass seine Liselotte jeden Tag mindestens drei Stunden mit dem Schimmel verbringt – kein Problem! Manfred: „Der Welli ist mein Freund. Ich bin froh, dass meine Frau solche Freude mit dem Pferd hat. Jeder von uns braucht seine Welt, hat seine Hobbys.“
Manfred legt das Volkslied „Es waren zwei Königskinder“ auf. Wellington schreitet über blaue Plastikfolie – sie stellt das Wasser dar, das die Königskinder voneinander trennt und das er durchqueren muss, um zu seiner Prinzessin zu kommen. Die meisten Pferde würden allein schon durchs Knistern panisch Reißaus nehmen. „Alles eine Sache des Vertrauens,“ erklärt Liselotte. Und flötet: „Komm her mein Prinz! Ja fein machst du das! Komm zu Mama!“
Auch wenn Mama sich mit ihm komplett in Plastikfolie hüllt, bleibt Welli ruhig: „Christo hat den Reichstag in Berlin verpackt. Und ich den Wellington in Bingen,“ schwärmt Liselotte von einer gelungenen Vorführung, die bei unserem Besuch nicht so ganz klappen will. Eine meterlange Plastikfolie um den Bauch gebunden rennt Lieselotte vorneweg, Welli hinterher. Wenn dann beide stehen bleiben, fällt die luftgefüllte Folie über ihnen zusammen. Doch diesmal rührt sich Welli nicht vom Fleck. Absolut okay für Liselotte: „Entweder er macht’s oder nicht. Man muss die Pferde nicht anschreien. Manchmal hat er keine Lust. Das sagt er mir, und das akzeptiere ich. So ein Pferd, das redet mit einem. Wellington hat unterschiedliche Stimmlagen. Mit den Pferden muss man sprechen. Ich sag‘ auch immer Bitte und Danke zu ihm.“ Dass Welli alles versteht, davon ist sie fest überzeugt. Einmal war ihre Freundin Hilde aus Kindertagen da, und die beiden schwätzten hessisches Platt. Liselotte lacht: „Welli hat drei Meter weiter weg gegrast. Er hob den Kopf, die Ohren spitz nach oben, hörte auf zu fressen und hat dem Plattdeutsch gelauscht. Er konnt’s nicht fassen!“
Wenn ein Kunststück nicht auf Anhieb klappt, redet sie dem Pferd liebevoll, aber bestimmt zu. Viel über den Umgang mit Pferden hat sie sich in Büchern angelesen. Doch das meiste lernte sie in der Berufsschule für Pferdewirte: „Als ich Welli drei Jahre hatte war mir klar: Ich weiß noch nicht genug.“ Eineinhalb Jahre drückt sie die Pferdeschulbank – mit 63 Jahren! Heute ist sie 73, und hüpft, zwitschert und flirtet mit ihrem Schimmel wie ein junges, verliebtes Mädchen. „Welli springt so gerne!“ freut sie sich. „Willst du mal zeigen, wie der schöne Welli über die Stange springen kann?“ Klar will er, macht vorher sogar noch einen kleinen Freudensprung. „Neulich ist er siebenmal gesprungen. Hat danach einen Knicks gemacht, eine Verbeugung und hat gewiehert. Es hat ihm so viel Spaß gemacht, die Leute waren begeistert!“ Stolz ist sie auch, dass Welli souverän zwischen rechts und links unterscheidet: „Gib linkes Beinchen!“ – und der linke Vorderhuf geht hoch.
Oft gehen sie kilometerweit spazieren, die Lady und ihr Schimmel. Meist im Partnerlook – beide geschmückt mit Pfauenfedern etwa. Sie singt dann Lieder wie „Wir lagen vor Madagaskar“, „Lobet den Herrn“, „Hopp, Hopp, Hopp, Pferdchen lauf Galopp“. Welli, der wie ein Hund an der Leine neben ihr her läuft, brummelt im Takt mit. Auch Wandergruppen hat sich Liselotte schon angeschlossen, „die finden das toll!“ Das kuriose Paar erregt überall Aufsehen, die Leute staunen, sprechen sie an, streicheln Wellington. Liselotte: „Was ich da schon erlebt habe mit meinem Pferdchen im Wald! Allen freuen sich, wenn sie uns sehen. Wenn uns Männer begegnen, stellt Welli sich sofort schützend vor mich.“ Bei Sonnenschein kommt es auch vor, dass man Liselotte unter ihrem pinkfarbenen Sonnenschirm auf der Weide im Liegestuhl sieht, Welli um sie herum grast und sie dabei Pferdefachbücher liest: “Ich bilde mich ständig weiter mit Pferdewissen!“
Skeptikern, die meinen, sie würde ihr Hannoveraner Vollblut vermenschlichen, erklärt sie, dass sie ihn als Familienmitglied betrachtet und auch so mit ihm umgeht: „Die ganze Familie kümmert sich um Welli und sorgt sich, wenn es ihm nicht gut geht. Meine beiden kleinen Enkelinnen sind gerne bei ihm, er ist ganz vorsichtig und lieb mit Kindern. Wir sind sozusagen seine Herde, und er guckt immer, ob wir alle da sind! Der Herrgott im Himmel hat mir dieses Pferd geschickt. Es ist mein Leben, meine Gesundheit und meine Kraftquelle. Und ihm gehört meine innige Liebe.“
„Stallgeflüster“ / K. Pohl