Zu Gast in Töwerland
„Inseln wurden in den Erzählungen der Völker oft als hinter dem Horizont liegende, unerreichbare Gärten Eden oder verloren gegangene Paradiese geschildert. Beispiele dafür sind das mythische Avalon aus den Artus-Legenden oder die Insel Kythera, die sagenhafte Liebesinsel der Aphrodite. Der Glaube an die mythischen Inseln war so gefestigt, dass einige davon sogar in frühen Kartenwerken verzeichnet waren, zum Beispiel die Sankt-Brendan-Inseln, die Insel Antilia im Atlantischen Ozean oder das Inselreich Atlantis.“
So beschreibt der Online-Dienst Wikipedia die mythische Bedeutung, die Inseln, fast überall auf der Welt zugeschrieben wird. Bekannte Inseln an Deutschlands Nord- und Ostseeküsten gibt es mehr als zwanzig. Manche von ihnen gelten als Orte der ‚Reichen und Schönen’ – doch nur wenige haben sich ihren ursprünglichen Charakter erhalten. Schließlich sind die meisten von ihnen recht gut vom Festland aus zu erreichen – schließlich braucht der moderne Mensch ja sein Auto als Lastesel, wenn er in Urlaub fährt. Oder doch nicht?
‚Stallgeflüster’ – wie es der Name schon sagt, ist ein Magazin, das sich mit Themen rund um Pferde und Reiten beschäftigt. Da liegt es nahe, dass man sich, wenn man weiß, dass es einen Platz gibt, an dem Pfer-
de noch die traditionelle Rolle spielen,
die sie Jahrhunderte lang innehatten, besucht, sich mit den Einwohnern und Gästen dieses Ortes unterhält. So kam es, dass die Stallgeflüster-Redaktion sich plötzlich auf einer Fähre, der Frisia IV, wiederfand. Vor uns das Wattenmeer, am Horizont ein schmaler Streifen im Dunst: Die Insel Juist – das ‚Töwerland’ (Zauberland), wie sie auch genannt wird. Ein ganz besonderer Recherche-Ausflug war das, denn das Auto mitsamt Navi und allem, was dazu gehört, war auf dem Festland zurückgeblieben. Ein wenig nackt kamen wir uns vor – schließlich war unser übliches Fortbewegungs- und Transportmittel nicht mehr da. Doch die Stimmung auf dem Schiff ließ uns das seltsame Gefühl schnell vergessen. Rund eineinhalb Stunden Fahrzeit würden wir benötigen, so der Kapitän bei der Begrüßung der Fahrgäste. Und das war eine bunte Mischung von Jung und Alt, solchen, die nicht oft mit dem Schiff unterwegs sind und anderen, die das ganz offensichtlich als normales Transportmittel ansahen – ganz ähnlich einem Linienbus.
Bei vielen der Passagiere war die Vorfreude auf einen Urlaub ganz offensichtlich – vor allem die Kleinsten standen an Fenstern und an der Reling, um möglichst früh einen guten Blick auf die Insel zu erhaschen. Auf den Decks pustete eine frische Nordseebrise – ein Stück weit begleiteten Möwen das Schiff. Aber: „Füttern verboten!“, teilte uns ein Schild mit. „Denn Möwen können zur Plage werden, wenn sie in Futter-Erwartung schwarmweise das Schiff umkreisen“ – für uns Landratten ein ganz neuer Gedanke – aber natürlich durchaus verständlich, wenn man darüber nachdenkt. Wir würden also voraussichtlich noch einiges zu lernen und denken haben, fernab von Festland und Auto.
Pünktlich, so wie es der Kapitän vorhergesagt hatte, erreichen wir dann, nachdem ein Stück weit an der Insel entlanggefahren sind, den Hafen. Offenbar hat uns die scheinbar gemächliche Fahrt entspannt, und nicht nur uns, sondern alle anderen auch. Von der üblichen Hast beim Ein- oder Aussteigen ist hier keine Spur. Eher gemütlich schlendern die Menschen in Richtung der kleinen, bunten Koffer-Trolleys, auf die wir in Norddeich unser Gepäck gestellt hatten. Hier scheint niemand Angst um sein Hab und Gut zu haben. Gemächlich wird ausgeräumt und dann stehen wir inmitten des bunten Treibens am Hafen vor dem Leuchtturm.
Kulturschock pur: Nicht zu glauben, Fahrräder, Fahrräder und nochmals Fahrräder. Dazwischen Pferdefuhrwerke aller Couleur. Solche, die aussehen wie ein Bus, andere, die ganz eindeutig dem Transport von Waren dienen, richtige Kutschen etc. Und neben den schmalen Sträßchen rund um den Leuchtturm: Strandkörbe zum Ruhen.
Ein wenig benommen von diesen ersten Eindrücken nehmen wir unser Gepäck und folgen unserem Insel-Führer Udo Eithoff. „Wie weit man das wohl schleppen muss?“, geht es uns durch den Kopf. Doch kaum zu Ende gedacht, stehen wir, nachdem Udo mehrfach Bekannte begrüßt hat („Kennt hier wirklich jeder jeden?“) bereits vor unserer Pension. „Das Zimmer ist noch nicht bezugsfertig“, – das nehme ich plötzlich erstaunlich gelassen zur Kenntnis und stelle mein Gepäck in den Flur. Das spielt doch keine Rolle, schließlich will ich ja ohnehin nach draußen.
Das Zimmer brauche ich soundso erst heute Abend. „Was ist mit mir passiert? Habe ich mit meinem Auto meine übliche streng strukturierte Ordnung auf dem Festland gelassen? Das will und werde ich jetzt erkunden und schauen, ob das Leben hier auf der Insel vielleicht andere Strukturen hat als auf dem Festland.
„Stallgeflüster“ / E.St