Hightech im Kutschenbau
Ein Pferdefuhrwerk. Bei diesem Begriff taucht unweigerlich das Bild des bäuerlichen Erntewagens mit großen Holzrädern vor dem inneren Auge auf. Dass dem schon lange nicht mehr so ist, wissen wir eigentlich – und dennoch, die Vorstellung vom ‚einfach gebauten Gefährt’ will nicht so recht verschwinden. Auf der Insel Juist, deren Versorgung (und Entsorgung) komplett von Pferden bewerkstelligt wird, sehen wir eine Menge unterschiedlichster Pferdefuhrwerke. Keines davon hat die berühmten Holzräder.
„Bei einem Pferdefahrzeug kommt es immer darauf an, wozu es gebraucht wird“, sagt Klaus Ricker. Er muss es wissen, denn der 49jährige hat bereits mit sechs Jahren zum ersten Mal auf dem Bock gesessen und kann auf eine internationale Karriere im Fahrsport zurückblicken. Seit rund 30 Jahren beschäftigt sich Klaus Ricker mit der Konstruktion und dem Bau von Pferdefahrzeugen aller Art.
„Angefangen hat das zunächst mit den Kutschen für meine Ponys. Ich hatte damals aus meiner Sicht nicht die richtigen Wagen. Sie waren mir zu schwer und ich habe daran gearbeitet, sie leichter, funktionaler und trotzdem stabil zu bauen. In Polen habe ich dann einen Partner gefunden. Mit ihm zusammen habe ich begonnen, zunächst Sport- und Freizeitkutschen zu bauen.“
Inzwischen hat es das Unternehmen geschafft, sich weltweit im Markt zu etablieren. Ricker-Kutschen haben diverse Weltmeister-Titel geholt und der Markt des Dülmener Kutschenbauers erstreckt sich von den USA, Südafrika und Russland bis über den gesamten europäischen Raum.
„Leicht und vor allem Leichtläufigkeit der Kutsche bzw. des Wagens, das ist unser Credo“, erzählt Ricker, der einige von den auf Juist rollenden Wagen konstruiert und gebaut hat. „Die Konstruktion der Fahrzeuge für Juist war eine spezielle Herausforderung an uns als Kutschenbauer. Da gibt es unterschiedlichste Einsatzgebiete, wie beispielsweise den Personentransport. Der funktioniert aber nicht wie bei einer Spazierfahrt. Hier haben die Gäste Gepäck dabei, Kinderwagen, auch mal einen Rollstuhl – das alles muss möglichst einfach in das Gefährt hinein zu befördern sein. Zusätzlich gibt es Lasten-Transporte unterschiedlichster Art: Mal sind es leichte Dinge, wie beispielsweise Toilettenrollen, die aber ein erhebliches Platzvolumen beanspruchen. Mal sind es Paletten mit Steinen, Flaschen oder Tiefkühlcontainern. Diese Dinge brauchen weniger Platz, sind aber extrem schwer. Deshalb spielt das Gewicht des Wagens eine große Rolle und vor allem seine Leichtläufigkeit.“
Leichtläufigkeit – das hat Ricker im Gespräch mehrfach erwähnt und erklärt es uns an einem einfachen Beispiel. „Fast jeder Reiter hat schon einmal seinen Pferdeanhänger beim Ankuppeln gezogen. Hat man ihn erst ins Rollen gebracht, ist das auch für eine Frau kein großes Problem, ihn zu bewegen und am Rollen zu halten. Trotzdem wiegt er immerhin zwischen 600 und 1000 Kilogramm. Ein leichtläufiges Fahrzeug, auch wenn es viel wiegt, in Bewegung zu halten, bedarf keiner großen Kraftanstrengung. So ist das auch beim Pferdegespann. Je leichter und leichtläufiger der Wagen, desto weniger Kraft brauchen die Pferde um ihn zu ziehen. Und das Wohl der Pferde ist schließlich das A und O in unserem Beruf.“
Doch nun zurück zu den Wagen auf Juist. Neben der guten Funktionalität für die Pferde stand dort auch der Komfort für die Fahrer im Vordergrund. „Schließlich spannen diese Leute nicht aus Spaß einmal an, sondern arbeiten den ganzen Tag lang mit dem Fahrzeug. Je entspannter und leichter die Arbeit, desto besser für alle.“
Nachdem Ricker sich mehrere Tage lang am Hafen beim Be- und Entladen sachkundig gemacht hatte, kam die Idee: Einen Wagen konstruieren, der wie ein Trecker funktioniert. „Das heißt, wir haben einen kleinen, leichten Vorderwagen entwickelt, mit dem auch schon einiges transportiert werden kann, an den man aber, bei Bedarf, einen Anhänger für voluminösere Lasten anhängen kann. Das hat den Vorteil: Der kleine Vorderwagen wiegt nur 800 kg – die Pferde sind also bei Leerfahrten, wie beispielsweise zum Hafen von größerer Zug-Last befreit. Im Hafen kann bereits der Anhänger beladen werden, ohne dass für die Tiere unnötige Wartezeiten entstehen. Wenn sie mit dem kleinen Vorderwagen ankommen, wird lediglich angekuppelt und weiter geht’s. Das spart nicht nur Kraft sondern auch Zeit – für Kutscher und Pferd, die dann beide mehr Freizeit haben.“ Sogar einen Anhänger mit hydraulischer, vom Fahrersitz aus zu bedienenden, Kippvorrichtung hat Ricker für das Insel-Fuhrunternehmen HUF gebaut. Natürlich ist ‚Stallgeflüster’ neugierig und fragt nach technischen Details.
Doch da grinst Klaus Ricker ein wenig. „In so einer Kutsche steckt weit mehr drin, als man von außen sieht“, meint er, spricht von Markenteilen, die hier verbaut wurden, Achsen, Radlagern, dem Zugwinkel etc., die berücksichtigt werden müssen. Aber die Geheimnisse seiner leichten Wagen verrät er uns natürlich nicht, bis auf die Allgemein-Weisheit: „Je größer das Rad ist, desto besser rollt es.“ Inzwischen hat Ricker schon wieder ein neues Projekt, das ihm ganz offensichtlich viel Spaß bereitet: Eine Hybrid-Kutsche. Sie verfügt u.a. über einen Elektro-Motor, der zur Unterstützung der Pferde anspringt, sobald diese mehr als 60 kg ziehen. Darüber hinaus ‚erkennt’ der Motor die Geschwindigkeit und hält diese ein. Sobald die Zuglast unter 60 kg sinkt, schaltet sich der Motor ab und lädt die Batterien wieder auf. Um das Ganze noch zu perfektionieren, wird das Gefährt Satelliten überwacht, so dass man sehen kann, wie schnell gefahren wurde, wie lange und mit welcher Zuglast.
Ein Prototyp dieser Kutsche ist bereits im Tourismus in den Bergen im Einsatz. Bei so viel Innovationsgeist fragt man sich als Fahrzeug-Laie, warum sich unsere Automobilindustrie bei Neu-Entwicklungen so schwer tut.
„Stallgeflüster“ / E.St