Rätselhafter Kälber-Riss auf Hofgut Breitenhaide
„Hessen ist Wolfs-Erwartungsland. Derzeit gibt es hier keine Wölfe“, so die offiziellen Auskünfte der mit diesem Thema befassten offiziellen Stellen und Behörden. Klare Aussagen und Stellungnahmen.
Doch in der Bevölkerung sieht man es anders: Immer wieder hört man, dass ein Kalb oder ein Schaf morgens tot auf Koppeln gefunden werden und deutliche Riss-Spuren aufweisen.
Bei vielen Landwirten drängt sich angesichts eines nahezu zur Hälfte aufgefressenen Tieres dann doch der Gedanke an den grauen Beutegreifer auf. Doch, dass so etwas dem Meister Isegrimm zuzuschreiben ist, das muss man beweisen. „Das geht relativ einfach“, sagen die Naturschützer. „Man holt einen Rissbegutachter, der gibt den Kadaver ins Labor. Dort wird dann anhand von DNA-Spuren festgestellt, wer der Verursacher ist.“ Das klingt einleuchtend und recht entspannt. Doch, wie so oft, Theorie und Praxis sind zweierlei. Davon berichtet Silke Jäger-Nagelschmidt aus Ortenberg, die im November ein gerissenes Kalb zu beklagen hatte.
„Am Abend zuvor stand das Tier noch kerngesund auf der Wiese. Am Morgen darauf fanden wir den Kadaver, dem jede Menge Fleisch fehlte. Aufgrund dieser Menge, die da gefressen worden war, dachten wir sofort an einen Riss durch Wölfe. Man bat uns, die Überreste sorgfältig abzudecken, dabei Handschuhe zu tragen um Verunreinigungen zu vermeiden und zur DNA-Bestimmung in die Pathologie des Landesinstituts Hessisches Landeslabor nach Gießen zu bringen. Das haben wir getan und uns in Gießen nur ein wenig gewundert, dass das Tier in einen Behälter geworfen wurde, der nicht so klinisch rein aussah, wie wir uns das vorgestellt hatten.“
„Danach“, so Jäger-Nagelschmidt, „hörten wir nichts mehr.“ „Nach einer Woche habe ich dann einmal beim Labor nachgehakt – da war aber noch nicht viel geschehen. Erst zwei Wochen später kamen dann die Proben zur genetischen Analyse in das Labor des Senckenberg-Institutes – aber da waren die nicht mehr brauchbar. Immerhin konnte festgestellt werden, dass sich rund um den Kadaver Spuren von großen ‚Hundeartigen’ in Kuhfladen fanden, was bei uns den Verdacht auf Wolf auslöste. Schließlich haben beispielsweise Füchse deutlich kleinere Pfoten und werden wohl kaum solche Mengen an Fleisch vertilgen, wie die, die dem Kalb fehlten. Außerdem ist Meister Reinecke denn doch nicht groß genug, ein zehn Wochen altes Kalb zu erlegen,“ meint Jäger-Nagelschmidt.
Eine weitere Besonderheit entdeckte die Familie als die Hessenschau, nachdem sie auf die Geschichte aufmerksam geworden war, mit einem Kamera-Team vorbei kam: Nur wenige Meter von der Stelle an der das Kalb verendet war, fanden sich erneut Fellreste. Diese wurden von der Amtstierärztin, die in diesem zweiten Fall rasch heran eilte, als Reh identifiziert. „Doch auch ein Reh ist für einen Fuchs als Beutetier zu groß“, stellt Jäger-Nagelschmidt zu diesem zweiten Fund fest und überlegt noch immer, wie man das Geheimnis um den Fraß zweier doch nicht ganz kleinen Tiere lüften könnte. Die Friedberger Amtstierärztin hat sich nach den beiden Vorfällen in Ortenberg inzwischen Probeentnahme-Gerätschaften zugelegt, mit denen beim Senckenberg-Institut ein besseres Bestimmungsbild erstellt werden kann.
Einer, der nicht auf den ersten Riss warten will, ist Mati Abel. Der Hobby-Schäfer hat in Buseck-Beuren rund 150 Tiere, darunter auch die vom Aussterben bedrohte Haustier-Rasse Rhönschaf. Abel setzt auf den Einsatz von Herdenschutzhunden, hat bereits fünf Hunde im Einsatz bei den Herden und engagiert sich im Verein für arbeitende Herdenschutzhunde. Der Verein unterstützt aktiv Tierhalter, die ihre Herden bzw. Nutztiere durch Hunde schützen wollen, steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite und ist gut vernetzt – vor allem auch mit Tierhaltern in den von Wölfen besiedelten Regionen Deutschlands. „Herdenschutz ist Artenschutz“, sagt Abel. „Ob es hier in Hessen schon Wölfe gibt, das weiß ich nicht. Aber, dass Wölfe wandern und in kurzer Zeit mehrere hundert Kilometer zurücklegen können, ist allgemein bekannt. Wenn ich erst dann Hunde einsetze, wenn die ersten Riss-Schäden vorliegen, ist es zu spät. Bis ein solcher Hund richtig arbeiten kann, dauert das eine Weile – deshalb trainiere ich sie bereits jetzt an und bin gut vorbereitet, falls sich herausstellt, dass Hessen kein Wolfs-Erwartungsland ist, sondern Wolfsland.“
„Stallgeflüster“ / Elke Stamm