Wo endet Bodenarbeit und wo beginnt Zirzensik?
Immer mehr Pferdehalter haben die Intelligenz ihrer Tiere erkannt und arbeiten mit ihnen vom Boden aus. Tolle Kunststücke kann man auf Pferde-Messen und Shows bewundern. Die Leichtigkeit und das Vertrauen des Tieres in den Menschen, das hier gezeigt wird, fasziniert und lockt so manchen Pferdebesitzer das ebenfalls zu probieren. Die Angebote an Trainern sind vielfältig – da fällt die Entscheidung schwer. ‚Stallgeflüster‘ versuchte die Unterschiede zwischen Zirzensik und Bodenarbeit mit Pferdetrainerin Judith Mauss zu klären.
Seit dreißig Jahren befasst sich Mauss mit der Ausbildung von Pferden vom Boden aus und kann auf eine beachtliche Reihe von Erfolgen mit so genannten ‚Problem-Pferden‘ zurückblicken. Doch eine klare Abgrenzung der beiden Begriffe fällt auch ihr zunächst schwer.
„Bodenarbeit, ist ein Begriff, den es in meiner Jugend noch gar nicht gab. Aber sie hat unstrittig eine Vielzahl von positiven Auswirkungen. Den größten Bonus sehe ich allerdings in der Chance, dabei eine echte, vertrauensvolle und von Respekt geprägte Beziehung mit seinem Pferd aufzubauen. Wer träumt nicht von feinster Verständigung und Leichtigkeit, von einem Pferd, dass sich uns anschließt, zuhört, aufmerksam ist und gerne mitmacht.“ „Der Schlüssel dazu ist für mich die Bodenarbeit, gepaart mit dem Wissen und dem Verständnis für die Bedürfnisse und Eigenheiten des Pferdes. Das heißt, man muss das Pferd verstehen lernen, seine Sichtweise einnehmen können. Hier ist der Mensch gefragt, sein Wissen über Pferde zu erweitern, und in die Lage zu kommen, eine Situation mit den Augen des Pferdes zu sehen und so das eigentliche Problem des Tieres zu erkennen. Durch das Verstehen entsteht Verständnis – nur Verständnis macht Verständigung möglich – erst durch Verständigung entsteht die ersehnte und vielzitierte Verbindung.“
„Bodenarbeit, wie ich sie praktiziere und lehre, untergliedert sich in mehrere Bereiche, die größtenteils aufeinander aufbauen. Am Anfang gilt es die Kontrolle über sein Pferd zu haben, sonst kann es schnell gefährlich werden.“
An erster Stelle steht dabei die Erziehung: Menschen be- oder abrängen, rempeln, umrennen sowie Distanzlosigkeit, die sich in Knabbern, Knappen, Beißen, Drohen oder Treten äußert, gilt es ebenso zu unterbinden, wie Probleme beim Führen oder Longieren. Das sind wichtige Voraussetzungen für die eigene Sicherheit.“
„Dann kann ich im zweiten Schritt mit der Gymnastizierung beginnen, ohne zu reiten, Balance erarbeiten, Geschmeidigkeit und Körpergefühl meines Pferdes fördern und die richtige Haltung entwickeln. Kann ein Pferd zum Beispiel aus Altersgründen oder wegen einer Verletzung nicht (mehr) geritten werden, ist Bodenarbeit bestens zur Gesunderhaltung, Regeneration und als ‘Seniorengymnastik‘ geeignet.“
„Am Boden lassen sich verschiedene Grundlagen schaffen, die anschließend in den Sattel mitgenommen werden können. Bei der klassischen Handarbeit z.B. lernt das Pferd spielend die diagonale Hilfengebung von äußerem Zügel und innerem Bein {= Gerte). Die Vorteile liegen auf der Hand: das Pferd muss noch kein Reitergewicht tragen und ausbalancieren. Die Hilfengebung ist durch den unmittelbaren Einfluss auf Kopf- und Halsposition (von Biegung und Dehnungshaltung bis zur Aufrichtung) für das Pferd sehr viel verständlicher als vom Sattel aus.
Auch weiterführende, anspruchsvolle versammelnde Dressurlektionen lassen sich gut vom Boden erarbeiten. Von Traversbewegungen über Piaffe, Passage, Levade ist vieles möglich.“
„Ergänzt wird diese Arbeit durch Gelassenheitstraining in einem Parcours mit für Pferde ‚Schrecklichkeiten‘, dem Fluchttier potenziell gefährlich erscheinen und gewöhnlich seinen Fluchtreflex auslösen. Dabei werden die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen angesprochen: Geräusche, unterschiedliche Untergründe, Engstellen, Berührungen, optische Eindrücke, Gerüche. Was man bei diesem Training in dem geschützten Rahmen einer Reithalle erarbeitet hat, lässt sich dann auch in Situationen außerhalb der gewohnten Umgebung abrufen.
Die Krönung der Beziehung zwischen den so unterschiedlichen Wesen Mensch und Pferd ist dann die Freiarbeit. Denn erst wenn mit dem Seil die letzte physische Verbindung zum Pferd weg ist, zeigt sich wie gut das Verständnis und die mentale Verbindung zwischen beiden wirklich sind. Damit meine ich nicht im Roundpen das Halfter abzumachen und das Pferd in die eine oder andere Richtung laufen zu lassen, sondern auf einem weitläufigen Platz alle Übungen abrufen zu können, die zuvor mit dem Seil erarbeitet wurden.
Zirzensik ja, wenn sie der Gynastizierung dient – doch Vorsicht:
Erst zum richtigen Zeitpunkt damit anfangen Zirzensik ist für Judith Mauss Teil der Bodenarbeit – allerdings nur, wenn die Arbeit Balance, Beweglichkeit Muskelaufbau und Körpergefühl fördern und fordern, wie z. B. Kompliment oder Podestarbeit. Auch Übungen mit versammelndem Effekt und solch, die die Aufrichtung trainieren z.B. Spanischer Schritt und Spanischer Trab gehören für Mauss mit zur Bodenarbeit. Auch das Ablegen auf Kommando betrachtet sie als besondere Übung, die das absolute Vertrauen des Pferdes zu seinem Menschen fordert.
Tricks, wie Ja-nein-sagen, Dinge aufheben oder apportieren, Küsschen geben etc. lehrt Mauss nicht. Abgesehen davon, dass sie keinen Nutzen für das Tier haben, können hier auch Dinge erlernt werden, die dann beim Reiten ‚nach hinten losgehen‘. „Reite mal ein Pferd durch einen Parcours mit Pilonen, wenn dieses gelernt hat, diese Pilonen zu apportieren“, erklärt sie uns.
„Wenn ich auf Zirsensik-Lektionen angesprochen werde, reagiere ich oft eher zurückhaltend. Das liegt daran, dass ich schon zu viele NegativBeispiele gesehen habe. Ich werde oft zu Problemfällen gerufen, wo Pferde nicht mehr kontrollierbar sind und somit zu einer großen Gefahr für den Menschen werden. Das passiert u.a., wenn ihnen zu früh zu dominante Bewegungen oder Lektionen beigebracht oder erlaubt wurden. Vielleicht bietet das Pferd etwas von sich aus an (z.B. Scharren) und dies wird vom Menschen übernommen, belohnt, gefördert, weil es an Spanischen Schritt erinnert, ohne dass zuvor eine tragfähige Basis für die Kommunikation geschaffen wurde.
Extrem wichtig ist es, dass man seinem Pferd auch mitteilen kann, wann eine Aufgabe zu Ende ist und es aufzuhören hat. Und darüber hinaus: Dass die Bewegung nicht eigenmächtig ohne Aufforderung ausgeführt wird. Beachtet man diese Regel nicht, ist man ganz schnell in der Situation, einem unverhofft austretenden Vorderbein oder einem plötzlich steigenden Pferd ausweichen zu müssen. Ich zitiere zur Verdeutlichung hier gerne aus dem Zauberlehrling: ‚Die Geister die rief, werde ich nun nicht los.‘
Das heißt, der Zeitpunkt, wann ich dominante Lektionen, wie Steigen oder Spanischen Schritt, in das Trainingsprogramm nehme, ist extrem wichtig. Man kann nicht einfach den wichtigen Ausbildungsschritt der Grunderziehung und Grundausbildung überspringen.“
Judith Mauss‘ Fazit zu diesem Thema:
Viele Zirkuslektionen schulen das Pferd in Versammlung, Aufrichtung, Körpergefühl, Balance, Geschmeidigkeit und tragen zum Muskelaufbau ebenso bei, wie wir es auch von klassischen Dressurlektionen kennen. Bei Beachtung der richtigen Ausbildungsschritte, des Zeitpunktes und auch des Charakters eines Pferdes sind diese Zirkuslektionen daher eine wunderbare Bereicherung und Abwechslung für Mensch und Tier.
„Stallgeflüster“ / E. Stamm