Der Weg ist das Ziel – Zu Pferd auf dem Jakobsweg
Nachdem Birgit Heichele das Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling gelesen hatte, stand ihr Entschluss fest: Ich mache den Jakobsweg – und zwar zu Pferd!
Zweimal hat sie sich seitdem mit ihrer Quarterhorse-Mix-Stute Pearl auf den Weg nach Santiago de Compostela gemacht – und musste beide Male abbrechen. Aufgeben kommt für sie jedoch nicht infrage. Im Mai will die Tierärztin aus Oberkleen zum dritten Mal auf den Jakobsweg. Was sie antreibt und was sie auf ihren Pilgerritten erlebte, erzählt sie im Interview mit Stallgeflüster.
Kleine Wanderritte hatte die Tierärztin aus Oberkleen bereits hin und wieder unternommen, etwa mit den Reiterfreunden aus Mittelhessen: „Das war immer toll, aber auch sehr durchgeplant. Alles ist vorprogrammiert, von den Pausen bis zur vorher gebuchten Unterkunft. Einen Wanderritt hatte ich mir eigentlich spontaner vorgestellt.“ Aber natürlich setzt ein Wanderritt auf dem Jakobsweg neben viel Improvisationstalent auch gute Planung voraus. Und so macht sich Birgit im Frühjahr 2021 an die Vorbereitungen.
16 Stationen bzw. Übernachtungen, jeden Abend woanders, rechnete sie für das erste Teilstück von Oberkleen bis Aachen aus. Sie lächelt, wenn sie daran zurückdenkt: „Von den 16 Stationen haben wir genau drei angeritten, und sind dann einfach weiter gereicht worden, von einem Pferdefreund zum nächsten. Pferdeleute sind alle unglaublich hilfsbereit. Unsere Gastgeber haben immer einfach den nächsten Übernachtungsplatz vorgeschlagen und uns dort dann telefonisch angekündigt.“
Vorm Aufbruch im September 2021 war sie den ganzen Sommer mit Pearl unterwegs, um die Neunjährige und sich selbst auf den langen Ritt nach Santiago de Compostela vorzubereiten: Im Allgäu ging’s über Stock und Stein bergauf und bergab, an der Nordsee galoppierten sie am Strand. Immer dabei: Jerro, ein vierjähriger PRE, den die erfahrene Reiterin von einer Freundin zur Ausbildung hatte, und der als Packpferd die Pilgerreise mitmachen sollte.
„Von 16 geplanten Stationen haben wir genau drei angeritten, und sind dann einfach weiter gereicht worden, von einem Pferdefreund zum nächsten.“
„Normalerweise reitet man das junge Pferd und nimmt das erfahrene als Packpferd,“ lächelt Birgit Heichele. „Doch wir machten es umgekehrt. Jerro ist derart menschenbezogen, dass ich ihn ohne Leine laufenlassen kann und keine Angst haben muss, dass er samt Gepäck durchgeht.“ Die Wahl der Packtaschen geriet zur echten Herausforderung. Wasserdicht sollten sie sein und perfekt sitzen. Weil sie keine passenden fand, nähte Birgit wasserdichte Fahrradtaschen zu Packtaschen um: „Am Sattel habe ich eine Konstruktion gebaut, damit ich sie vernünftig hängen kann.“
Schließlich machten sie sich auf den Weg: Birgit, ihr Mann Heiko, Pearl, Jerro und die deutschen Doggen Leo und Kaya. „Mein Mann ist zu Fuß gegangen, ich ritt, und wir haben mit zehn Kilometern Strecke am Tag angefangen,“ erinnert sich Birgit. Sie lacht: „Zum Schluss schafften wir 39 Kilometer täglich, sind immer fitter geworden. Es ist tatsächlich so: Die Pferde trainieren sich beim Wanderritt jeden Tag selbst. Die Menschen übrigens auch.“ Viel anstrengender für die Tiere ist es allerdings, jeden Tag woanders zu übernachten – eine Tatsache, die sie anfangs nicht so recht wahrhaben wollte, der sie aber recht bald ins Auge sehen musste: „Pferde sind Gewohnheitstiere. Wenn ständig neue Eindrücke entstehen, werden sie schneller müde, und die Aufmerksamkeit lässt nach. Wir merkten recht bald, dass es für die Pferde tatsächlich besser ist, wenn man sie auf einem Paddock oder im Stall übernachten lässt und sie ihren eigenen Bereich haben. Dann sind sie auch deutlich entspannter am Tag,“
Sie kamen gut voran, und allerorten war die bunte Wandertruppe aus Zwei- und Vierbeinern DIE Attraktion, wurde immer wieder von begeisterten Passanten fotografiert. Absolutes Highlight war das Übersetzen mit der Rheinfähre von Sankt Goarshausen nach St. Goar: „Wir wurden mehr fotografiert als die ganze Umgebung,“ lacht Birgit Heichele. „Der Kapitän war total freundlich und versprach, extra sanft zu wenden. Ich war so stolz auf meine Pferde, die sich ganz brav übersetzen ließen.“
„Ich bin ja eher ein Fan davon, dass Pferde barfuß laufen. Aber ein solcher Ritt, durchs Moor und über Felsen, ist ohne Hufschutz undenkbar.“
Die Freude über die ohne große Zwischenfälle zurückgelegte Strecke wurde erstmals getrübt, als Packpferd Jerro von einem fiesen Zeckenbiss in der Sattelgurtlage geplagt wurde, der schnell auf Faustgröße anschwoll. „Um ihn zu schonen, haben wir auf mein Reitpferd umgepackt. Ich selber bin dann, wie mein Mann, zu Fuß gegangen,“ so Birgit, und fügt hinzu: „Wanderritt bedeutet eben auch Wandern, nicht nur Reiten.“ Circa 80 Kilometer vor dem ersten angestrebten Etappenziel Aachen, nach 16 Tagen on the road, war der Traum vom Jakobsweg für sie trotzdem zu Ende: „Unser neunjähriger Rüde Leo konnte plötzlich nicht mehr laufen. Er hatte einen Bandscheibenvorfall erlitten. In vier Tagen wären wir an unserem gesteckten Ziel Aachen gewesen. Stattdessen fuhren wir mit den Begleitfahrzeugen nach Hause. Da war es Mitte Oktober.“ Die Pferde wurden langsam runtertrainiert, bekamen Zeit zum Erholen.
„Das Pferd muss sich auf den Reiter verlassen, und umgekehrt. Vertrauen gegen Vertrauen, aber der Mensch muss in Vorleistung gehen.“
Im Mai 2022 brach Birgit erneut auf. Dabei diesmal: Ihre Freundin Taddy mit Polen Stute Hella und dem belgischen Schäferhund Mogli sowie Pearl und Packpferd Missy. Sie starteten von Aachen durch die Eifel und Belgien und planten für die 2.600 Kilometer bis nach Santiago de Compostela ein halbes Jahr ein. Durch kleine Eifelstädtchen wie Kornelimünster, wo sie von entzückten Menschen gefeiert und immer wieder fotografiert wurden. Da die Route an etlichen Gewässern vorbeiführt, liefen die Pferde zum Schutz vor Mücken und Bremsen meist mit Ausreitdecken. Schnell war klar: Für Pferde ist an vielen Stellen kaum ein Durchkommen.
Ein Pferdebesitzer, bei dem sie an der zweiten Station übernachteten, gab den Reiterinnen den entscheidenden Tipp: Da der offizielle Jakobsweg oft nur für Wanderer passierbar ist, eigne sich für Reiter und Radfahrer die belgische Route d’Artagnan deutlich besser. „Alle Wege führen nach Rom, oder, in dem Fall, nach Santiago de Compostela,“ lacht Birgit Heichele. Sie wanderten entlang der idyllischen Route d’Artagnan, übernachteten am Rande von Dörfern auf Wiesen, wo man die Pferde anbinden konnte. „Strom- und Wasseranschluss brauchten wir nicht, da flossen ja glasklare Bäche durch,“ schwärmt sie. In dem gluckernden Wasser wuschen sie sich, während die Pferde direkt daneben ihren Durst stillten. Dann spontane Planänderung: Bei abendlichen Gesprächen stellte sich heraus, dass Taddy noch nie das Hohe Venn gesehen hatte, ein Hochmoor an der deutsch-belgischen Grenze. Ein Umweg – der sich jedoch als eines der Highlights der Tour herausstellen sollte.
„Das ist das Tolle an so einem Wanderritt: Die freie Entscheidung, das zu tun, worauf man Lust hat,“ sagt Birgit. Sie trafen einen Förster, der sie auf seinem Grund und Boden Station machen ließ – und ihnen erlaubte, die nächsten Tage im Hohen Venn, ein wildes Naturschutzgebiet, in dem auch Wölfe unterwegs sind, samt Pferden und Hund zu übernachten. Abenteuer pur: Nach einem Tagesritt errichteten die beiden Reiterinnen mitten im Hochmoor einen Schutzzaun für die Nacht. Die untere Litze extra nah am Boden, damit kein Wolf drunter durch krabbeln kann. Für den Fall der Fälle wurden die Pferde zusätzlich mit Mini-Glöckchen ausgestattet. Birgit und Taddy übernachteten im Hänger. Eine unvergessliche, friedliche Nacht unterm Sternenhimmel inmitten unverfälschter Natur.
Weiter ging’s Richtung Frankreich durch Belgien, wo Hunde übrigens immer an der Leine geführt werden müssen. Von Tag zu Tag leben, eine Unterkunft suchen, weiterziehen – für Birgit Heichele macht diese Freiheit den unvergleichlichen Reiz der Tour aus. Auch wenn sie manchmal zur Tortur wurde: Bei einer unvorsichtigen Bewegung knackste sich die Tierärztin zwei Rippen an. Und als sie der Hitze wegen ihr Pferd leichtsinnigerweise in Schlappen führte, trat Pearl prompt auf einen drauf, der dabei kaputtging: „Die letzten Kilometer musste ich barfuß über Felsen und Steine laufen, meine Füße taten höllisch weh.“ Die Duplos, die Pearl trug, waren bereits nach fünf Wochen komplett durch. Auch Missys Eisen waren schneller als geplant abgelaufen: „Ich bin ja eher ein Fan davon, dass Pferde barfuß laufen. Aber ein solcher Ritt, durchs Moor und über Felsen, ist ohne Hufschutz undenkbar,“ schildert Birgit ihre Erfahrungen.
Nicht immer ging’s ohne Luftanhalten: Bei ganz schmalen Pfaden etwa, wo es auf einer Seite steil rauf, auf der anderen steil runter ging. Über moosbewachsenen Schieferboden, regennass – rutschiger geht’s kaum. „Die Pferde müssen ständig schauen, wo setze ich den nächsten Fuß hin, wo kann ich lang. Am besten kuckt man selber gar nicht hin und vertraut dem Pferd, was es tut,“ sagt Birgit. Vor allem Stute Missy, gänzlich unerfahren in Sachen Wanderreiten, überraschte die beiden Freundinnen: Marschierte brav hinterher, und wenn ihr eine kleine Brücke nicht geheuer war, suchte sie sich selbst ihren Weg durch den Bach. „Missy hat Selbstbewusstsein und Gottvertrauen,“ lacht Birgit. „Und für ein Leckerli macht sie alles!“ Alle anderthalb Stunden wurde eine halbstündige Pause eingelegt. „Es sind die Höhenmeter, die einen schlauchen, viel mehr als die Kilometer und die Bodenbeschaffenheiten.“
„Das ist so ein ganz intimer Moment, wenn du das Pferd kraulst und streichelst, und es seinen Kopf an deine Bauch oder Brust lehnt, und dann einschläft.“
Der Anruf von zuhause Ende Juni kam gänzlich unerwartet. Ehemann Heiko war mit einer Bauchspeicheldrüsenentzündung auf der Intensivstation gelandet, die Hunde mussten versorgt werden. Birgit: „Wir haben die Reise sofort abgebrochen. Bei aller Abenteuerlust und Freiheitsliebe – die Familie geht vor!“ Heiko geht es inzwischen wieder gut. Und Birgit plant ihre dritte Jakobsweg-Wanderung mit Pferden. „Ich möchte das letzte Stück von der Mitte Belgiens, wo wir umdrehten, bis zur Grenze noch reiten. Und in Frankreich dann mit einer Kutsche unterwegs sein. Meine Pferde sind Allrounder, die gehen auch mit dem Zweispänner.“ Sie freut sich sehr auf Frankreich, denn dort gibt es an vielen Kanälen alte Treidelpfade, wo es erlaubt ist, mit Pferd und Kutsche langzugehen. Diese Etappe würde sie sich sogar auch alleine zutrauen. Ob sie es letztendlich bis nach Santiago de Compostela schafft, weiß sie nicht. Das sei auch gar nicht so wichtig: „Zumindest einen Teil des Jakobwegs will ich noch machen. Für mich ist ganz klar der Weg ist das Ziel.“
Bei allen Mühen und Hindernissen: Eine Wahnsinns-Erfahrung sei es, wie Mensch und Pferd bei einem solchen Abenteuer zusammenwachsen, schwärmt Birgit Heichele: „Das Pferd muss sich auf den Reiter verlassen, und umgekehrt. Vertrauen gegen Vertrauen, aber der Mensch muss in Vorleistung gehen. Dann bekommt er so viel mehr zurück, als er gegeben hat,“ sagt sie sichtlich gerührt. „Es hat sich in allem immer ergeben, dass wir den richtigen Weg gefunden haben, inmitten dieser wunderschönen Natur. Wir haben auch zu uns selbst gefunden, haben gute Menschen kennengelernt, und wir haben Tiere, die das alles mitgemacht haben.“ Es sei tatsächlich Pilgern gewesen, im wahrsten Sinne: „Ganz oft dachte ich, oh, das ist hier tatsächlich ein heiliger Ort. Hier kann man absteigen, das Gras und den Boden berühren. Reines, frisches Wasser aus dem Bach trinken. Für mich ist Gott Natur, ein tiefer Glaube, der fest in mir verwurzelt ist. Ganz im Augenblick zu sein, das ist eine wunderbare Erfahrung, wegen der wir auch zu dieser Reise aufgebrochen sind.“
Die Rituale am Abend – unbezahlbares Reiterglück. Die Pferde wurden mit mindestens einer Stunde Schmusen verwöhnt. „Besonders attraktiv ist Bauch- und Popokraulen, überall, wo sie selber nicht hinkommen, wegen der ganzen Bremsenstiche. Das ist so ein ganz intimer Moment, wenn du das Pferd kraulst und streichelst, und es seinen Kopf an deine Bauch oder Brust lehnt, und dann einschläft.“ Ohne diese wunderbaren Pferde und die vielen tollen Menschen, denen sie begegneten, wäre die Tour undenkbar, lächelt Birgit Heichele: „Ich bin erstaunt und berührt, wie hilfsbereit alle Pferdeleute sind, die wir unterwegs getroffen und kennen gelernt haben. Die Menschen haben uns nicht nur auf ihre Höfe, sondern auch in ihre Herzen gelassen.“
„Stallgeflüster“ / K. Pohl