Die belgischen Fischer und ihre Brabanter Kaltblüter auf Krabbenfang
In dem kleinen flämischen Fischerdorf Oostduinkerke ziehen massige Brabanter schwere Netze durch die Nordsee, um Garnelen einzusammeln – einzigartig auf der Welt.
Die Garnelenfischerei zu Pferd ist eine 500 Jahre alte Tradition, die nur noch von 16 Fischern betrieben wird.
Zwei, drei Stunden vor Ebbe trotten die mächtigen Kaltblüter Tag für Tag los, rechts und links am massigen Pferdeleib zwei Reetkörbe. Sie ziehen riesige Netze durch die Brandung, bis sie zum Hals im Wasser stehen. Die Fischer, die auf ihnen reiten, tragen gelbes Ölzeug, hohe Stiefel und einen Südwester auf dem Kopf. Die Schwänze der Pferde sind kupiert, damit der Schweif sich nicht in den Schleppnetzen verfangen und zu Verletzungen führen kann.
„Der schönste Moment zum Fischen ist ganz früh am Morgen, wenn die Sonne aufgeht, und du bist ganz allein am Strand. Du gehst auf deinem Pferd ins Wasser, immer tiefer hinein,“ erzählt Fischer Günther Vanbleu dem Dokumentarfilmer Kurt Mariën, der den Flamen für seinen Kurzfilm Opgetuigd Opgetogen (Begeistert, begeistert) porträtiert hat. „Die Wellen, die gegen das Tier schlagen, über deinen Kopf, in deine Jacke und in deine Hose, das ist ein herrliches Gefühl. Du wirst klatschnass, und oft ist es eiskalt. Doch es ist ein schöner Beruf,“ sagt Vanbleu. Der Film zeigt eindrucksvoll, wie eng Mensch, Tier und Naturgewalten beim Krabbenfischen miteinander verbunden sind.
Günther Vanbleu war 10, als er erstmals mit seinem Vater Krabbenfischen ging. Seit dem 16. Jahrhundert wird das Wissen der Fischer vom Vater an den Sohn weitergegeben. „Ich bin froh, dass ich Pferdefischer bin. So kann ich die Tradition fortsetzen, wie unsere Großväter das auch getan haben,“ sagt er. Seine Stute Nikki hat er mit viel Geduld ausgebildet: „Ich war zuerst nur vorne im seichten Wasser, weil Nikki sich noch nicht in die großen Wellen traute. Das Geräusch der Wellen, die gegen die Pferde schlagen, das mögen sie gar nicht. Nikki wurde durch die Gewöhnung langsam ruhiger, und nach einem Jahr konnte ich tiefer mit ihr gehen.“ Er lobt seine Dicke: „Nikki macht das jetzt sehr gut.“
Bevor er die Brabanter-Stute in aller Herrgottsfrühe in der Dunkelheit einspannt, wird sie ausgiebig gestriegelt: „Das hat sie sehr gern. Unsere Pferde müssen besonders gut versorgt und verwöhnt werden, das ist zeitintensiv.“ Nachdem Vanbleu das Joch angelegt hat, legt er eine schützende Decke über Nikkis Pferderücken. Ohne sie würden die seitlichen Körbe an ihrem Bauch scheuern und ihre Haut aufreißen. Der Sattel ist aus Holz. Eine Art Stuhl, der mit einem breiten Bauchriemen festgebunden wird. Ein Ledersattel würde dem Salzwasser auf Dauer nicht standhalten.
Brabanter oder belgische Kaltblüter gehören zu den größten Pferden der Welt. Trotz ihrer unfassbaren Kraft sind sie sanftmütig und freundlich. Eine genügsame Pferderasse, die bereits vor hunderten Jahren in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Die Kaltblüter haben ein Stockmaß von 165 bis 173 cm und zeichnen sich durch einen kurzen schweren Hals mit Doppelmähne, einer kräftigen langen Schulter sowie einer breiten Brust aus. Typisch sind ein niedriger Widerrist und eine breite, lange, gespaltene und oft abschüssige Kruppe, mit enormen Muskeln um die Gesäßregion. Die kurzen bis mittel-langen Beine mit starkem Behang stehen auf flachen Hufen, die regelmäßig alle zweieinhalb Monate von einem Hufschmied gepflegt werden. Brabanter werden bis zu 20 Jahre alt und können locker mehrere hundert Kilo schleppen. Von Fall zu Fall bringen sie 1200 Kilo auf die Waage – fast so viel wie zwei ausgewachsene Hannoveraner!
Wenn die arbeitswilligen Kraftpakete parallel zur Küste durch brusthohes Wasser waten, müssen sie nicht nur gegen den Wasserwiderstand ankämpfen: An ihrem Schultergeschirr sind Schleppnetze von 7 x 70 Metern angebracht, die sich durch zwei seitlich befestigte Holzbretter im Wasser aufblähen. Am vorderen Teil ist eine lange Kette befestigt, die über den Meeresboden schleift und damit die Nordseekrabben aufscheucht: Sie springen aus dem Sand direkt ins Netz.
Die Ausbildung der Brabanter zum Fischerpferd dauert ein Jahr. Erst dann wagen sich Pferd und Reiter ins tiefere Wasser. Voraussetzung sind Vertrauen und Erfahrung, auf beiden Seiten. Erst wenn die Jungtiere 850 Kilo wiegen, Nacken und Rücken stark genug sind, dürfen sie die schweren Netze ziehen. An die niedrigen Wassertemperaturen werden sie im Hochsommer gewöhnt: Bei Hitze empfinden die sanften Giganten eine Abkühlung als willkommene Abwechslung.
Die Strände von Oostduinkerke eignen sich besonders für die Krabbenfischerei, da es weder Wellenbrecher noch Felsen oder andere Hindernisse gibt. Zudem finden Garnelen hier perfekten Nährboden. Früher gab es die reitenden Krabbenfischer auch in Nordfrankreich, Südengland und den Niederlanden. Heute ist Oostduinkerke der einzige Ort auf der Welt, wo diese uralte Handwerkskunst noch betrieben wird. Ein Spektakel: Hunderte Touristen stehen mit gezückten Fotoapparaten am Strand und laufen neben den Pferde-Kolossen her, wenn die Fischer mit ihnen losziehen. Nach zwei Stunden, wenn das Wasser wieder steigt, kehren die Männer zurück. Wenn sie dann ihre Schleppnetze ausleeren, sind sie meist von neugierigen Kindern umringt. Direkt nach dem Fang werden die Shrimps ein paar Minuten in Salzwasser gekocht, bis sich ihre hellgraue Farbe in Rosa verwandelt.
Von der Krabbenfischerei leben kann heute keiner mehr: Manchmal sind es nicht einmal zehn Kilo, die bei einem Fang zusammenkommen. Zu wenig, um damit zuverlässig Märkte und Restaurants zu beliefern. Die Tradition ist jedoch ein wichtiges Ritual für den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft: Dazu gehört, dass die Fischer am Abend mit Familie, Nachbarn und Freunden zusammenkommen, um bei Bier und Krabben den Tag ausklingen zu lassen. Dann sitzen mehrere Generationen um einen Tisch, pulen Krabben mit den Händen und erzählen sich dabei Geschichten. 2013 wurde der Garnelenfang zu Pferd in Oostduinkerke sogar von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.
Etwa alle halbe Stunde können sich die Pferde von ihrer anstrengenden Arbeit ausruhen: Dann reiten die Fischer zurück zum Strand, um die Netze zu leeren und den Fang zu sieben. Was sie nicht brauchen, wie Muscheln, Fische oder Quallen, werfen sie zurück ins Meer. Die Krabbenfischer von Oostduinkerke haben sich verpflichtet, ihrem Handwerk auf nachhaltige und ökologische Art und Weise nachzugehen. Ursprünglich fischten die Bauern hier Krabben, um damit den wenig fruchtbaren Sandboden der Gegend zu düngen. Erst als die Garnelen in den letzten Jahrzehnten zur Delikatesse wurden, wurden sie auch verkauft.
Für Eddy D‘Hulster ist die Pferdefischerei nicht nur ein Beruf, sondern seine große Leidenschaft. Bis zu sechsmal täglich reitet er mit seinem Pferd ins Meer: „Wenn die Sonne aufgeht, du an den Strand gehst und dein Pferd durchs Wasser läuft, hörst du nur sein Schnaufen und die Schritte,“ sagt er. „Dann fühlst du dich wie ein König.“
Die Krabbenfischer von Oostduinkerke sind der perfekte Gegenentwurf zu den riesigen Fischtrawlern, die mit ihren Schleppnetzen die Weltmeere durchpflügen. Die zu Pferd gefangenen Krabben sind viel frischer als die auf Hochsee gefangenen. Eine echte Delikatesse für Feinschmecker. Beim Pferdefischen werden die Krustentiere vom Wind getrocknet, auf den Fangschiffen durch das Wasser gekühlt. „Das macht den großen Unterschied im Geschmack,“ erklärt Fischer Günther Vanbleu.
Schon vor 500 Jahren gingen die „Garnaalenvisser te Paard“, wie sie auf flämisch heißen, noch mit zähen Maultieren, die für ihre Ausdauer bekannt waren, hier auf Krabbenfang. Im Laufe der Zeit stellten sich jedoch die Brabanter aufgrund ihrer schier unglaublichen Kraft und Arbeitswilligkeit als perfekte Fischerpferde heraus. Im Jahr 2000 waren die Krabbenfischer fast ausgestorben, es gab nur noch vier von ihnen. Mittlerweile sind es wieder 16, die die aufwendige Ausbildung bestanden haben: Die Stadt Oostduinkerke ist sich bewusst, welches weltweit einmalige Kulturerbe hier ausgeübt wird, und unterstützt die Fischer. Pferdefans aus aller Welt kommen her, das Krabbenfischen ist die größte Touristenattraktion weit und breit.
Gefischt wird das ganze Jahr. Obwohl die Nordsee im Sommer eigentlich viel zu warm ist für einen guten Fang, reiten die Fischer trotzdem ins Meer. Touristen kommen nun mal lieber im Sommer. Seit 1950 gibt es im Juni das jährliche Shrimp-Festival von Oostduinkerke, auf der Internetseite der Stadt kann sich jeder informieren, wann die Fischer ihre Arbeit mit den Pferden demonstrieren. Sobald die Touristen wieder weg sind, beginnt für die Krabbenfischer die eigentliche Saison: Wenn die Nordsee mit 4 bis 12 Grad genau die richtigen Temperaturen für Garnelen hat.
Stefaan Hancke stammt aus einer alten Landwirtschaftsfamilie und ist Inhaber einer Autowerkstatt. So oft es geht, zieht es den Hobby-Fischer zu seinen Pferden und ins Wasser: „Wir hatten immer Brabant-Pferde. Ihre ungeheure Kraft fasziniert mich, seit ich ein kleiner Junge bin.“ Heute züchtet Hancke die robusten Arbeitstiere und gibt anderen Krabbenfischern im Ort die Möglichkeit, ihre Brabanter auf seinen Weiden und in seinen Ställen unterzustellen.
Obwohl das Krabbenfischen zu Pferd sich finanziell nicht mehr lohnt, wollen die Fischer es nicht aufgeben. „Nichts ist damit vergleichbar“, sagte der Fischer Xavier Vanbillemont zur Mitteldeutschen Zeitung: „Schiffe können viel mehr Garnelen fangen als ich, aber ich fische viel lieber mit meinem Pferd. Weil es mein bester Freund ist.“
www. Oostduinkerke.com
Toerisme Koksijde-Oostduinkerke
Quellen: www.neff-home.com,
www.kaltblut-pferd.com,
www.visitkoksijde.be,
www.tradeflandern.com,
www.belgischekueste.be,
www.flandern-blog.be
„Stallgeflüster“ / K. Pohl