160 Tage bis ans Ende der Welt
Spätestens nach dem Erscheinen von Hape Kerkelings Bestseller ‚Ich bin dann mal weg‘ kennt nahezu jedes Kind den Begriff ‚Jakobsweg‘.
Doch für manch einen bedurfte es keines Bestsellers – der Jakobsweg zog auch ohne Buch und Film jahrhundertelang viele Menschen an. So auch Albert und Kerstin Knaus aus Iphofen im unterfränkischen Landkreis Kitzingen, die sich auch 15 Jahr nach ihrem Pilgerritt noch an jedem einzelnen der 160 Tage erinnern.
Albert Knaus ist seit vielen Jahren begeisterter Wanderreiter und Berittführer, organisierte u.a. Touren für Gruppen mit Pferden z.B. nach Venedig (mit Alpen-überquerung) oder auch zur Insel Rügen, eine Strecke von rund 1.300 km aus Unterfranken. Im Jahr 2004 hatten er und Frau Kerstin die Idee, über die Routen des Jakobsweges eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela und von dort aus zum Ende der Welt, dem Cap Finisterre zu unternehmen.
‚Den‘ Jakobsweg gibt es eigentlich gar nicht. Vielmehr handelt es sich um verschiedene, Jahrhunderte alte Routen, auf denen die Pilger nach Santiago de Compostela unterwegs waren. Sie durchziehen ganz Europa und nahezu überall trifft man als Fußgänger oder Wanderreiter auf Teilstrecken dieser Pilgerrouten. Viele von ihnen sind gekennzeichnet – oft durch das Symbol einer Muschel. Sie ist das Kennzeichen für Pilger auf dem Jakobsweg. Denn einer Legende nach, soll der Leichnam des enthaupteten Apostel in einem über und über mit Muscheln bedeckten Schiff ohne Besatzung in Galicien angelandet sein. Helfer beerdigten ihn weiter im Landesinneren – das Grab geriet in Vergessenheit. Erst im 9. Jahrhundert wurde es wieder entdeckt, zunächst eine Kapelle darüber errichtet, dann eine Kirche und schließlich die Kathedrale Santiago de Compostela.
Doch von der Legende um diesen bedeutenden Heiligen zurück in die Wirklichkeit: Anders als viele, die Hotels entlang der Route buchen, oder Teile des Weges im Auto zurück legen, beschlossen die Knaus die Strecke als ‚echte‘ Pilger nur mit ihren Pferden und einem Rittbegleithund in Angriff zu nehmen. Das klingt für den Laien zunächst recht einfach – „erfordert jedoch exakte Vorbereitung“, berichtet Albert Knaus aus vielfältiger Erfahrung.
„Da ist zunächst einmal das Gepäck zu berücksichtigen: Die Pferde können nur begrenzte Lasten tragen, wenn sie auch geritten werden sollen. Also heißt das: minimales Gepäck, aber so gestaltet, dass der Mensch auch bei widrigen Wetterbedingungen trocken und warm bleibt. Doch nicht nur das Gepäck für die Menschen spielt eine Rolle: Auch die Tiere wollen geschützt und versorgt werden. Dazu gehören für den Wanderreiter Hufpflege-Utensilien, Mückenschutz etc.“ Schließlich liegen auf dieser besonderen Reise zu Fuß und zu Pferd rund 3000 Kilometer vor Albert und Kerstin sowie ihren Vierbeinern, der Traber-Stute Lavella, dem Halbfriesen Diabolo und Hund Ferdinand.
Die technischen Details, wie Übernachtungs- und Tierarztadressen, Tagesstrecken, Höhenmeter, Karten und Kosten wurden im Vorfeld sorgfältig erarbeitet, die Pferde gründlich trainiert, das Gepäck gewissenhaft ausgewählt und gepackt – und dennoch barg der Weg für die beiden erfahrenen Wanderreiter so manche Überraschung und Gefahr für Leib und Leben. „Man muss sich zunächst an die langen Tagesetappen gewöhnen und sich nur langsam steigern. Der Pilgerweg führt nicht nur zum Grab des Heiligen Jakobus, sondern auch zu den Grenzen des eigenen Körpers und der eigenen Seele“, erzählt ein anderer Pilger, der zu Fuß unterwegs war.
Doch auch für Kerstin und Albert Knaus hielt der Weg so manche, nicht immer angenehme Überraschung bereit. So gab es Brücken, die zwar für Zweibeiner passierbar waren, nicht jedoch für Vierbeiner. Autobahnen und Eisenbahnstrecken, die den Weg kreuzten und umgangen werden mussten. Herbergen, die keine Hunde oder Pferde annahmen, die eine oder andere Verletzung bzw. Erkrankung bei den Vierbeinern und Blasen an den Füßen der Zweibeiner etc. „Doch trotz mancher Widrigkeiten wie Schneestürme oder Unwetter gab es viele unglaublich schöne Momente, in denen wir dankbar und froh waren, diese Reise machen zu können“, erzählen die beiden Wanderreiter, die als Pilgerberater für Menschen mit Hund, Pferd oder Esel ehrenamtlich bei der Fränkischen St. Jakobus-Gesellschaft Würzburg e.V., tätig sind.
Die Strecke, die Albert und Kerstin ausgewählt hatten, führte zunächst 371 Kilometer durch Deutschland zur französischen Grenze bei Wissembourg. Der französische Weg dann durch zehn Provinzen und sechzehn Departements in denen es u.a. die Hochvogesen sowie die bergige Landschaft des Burgund zu überwinden galt.
Beginn der 160-Tage-Reise war der 28.März 2004, ein kalter Märzmorgen, mit einer Temperatur von 5 Grad. Die erfahrenen Wanderreiter beschlossen, die gesamten 440 ersten Kilometer in Deutschland mit ihren Pferden zu Fuß zu gehen: „Aus reiner Vorbeugung, damit ja nichts ‚passiert‘. Eine Sehnenüberlastung, ein Sattel- oder Gurtdruck bedeuten das Aus. Zudem dient diese Gymnastik der Gesamtkondition von Reiter und Pferd. Sehnen, Muskel, Gefäße werden gestärkt.“
„Die ersten Wegstrecken in Deutschland waren beschaulich, Landschaft und Natur pur, nette Herbergsmenschen und gutes Essen“, erzählt Kerstin Knaus. Doch auch hier lauern unvorhergesehene Ereignisse: „Wir waren unterwegs von Iphofen (Franken) nach Rothenburg ob der Tauber. Ein unauffälliger, ungesicherter Bahnübergang vor uns. Wir bestaunten gerade eine interessante Autobahnbrücke, während ein Zug an uns vorbei raste. Wir erstarrten, als hätte uns ein Blitz getroffen. Hatte der Lokführer kein Signal gegeben? Der Mann im Führerstand und wir tauschten sehr überraschte Blicke aus. Glück gehabt – hier hätte der lang erträumte Ritt schon enden können. Sehr ruhig, etwas wackelig und ein wenig verlegen liefen wir weiter…“
In Frankreich überquerten die Pilger mit ihren Tieren die mit Riffelblech ausgekleidete Brücke über den Rhein-Marne-Kanal und wanderten weiter in Richtung Süden. „Schwierige Treppenaufstiege und große Felstürme verzögerten unser Vorwärtskommen. Beide Pferde und der Hund kletterten wie Gämsen. Wir waren in den Hochvogesen – im richtigen Gebirge! Diabolo war für manchen Abstieg zu breit. Die Packtaschen ragten weit hinaus. Die Pfade sind eng. Ich ging viele Umwege und rutschte mit ihm die Hänge hinunter,“ erinnert sich Kerstin.
Ein besonderes Erlebnis, das wohl keiner der beiden je vergessen wird, hielten die Hochvogesen bereit: „Die Schneefelder der
Hochvogesen blinkten. Schön für Fotoaufnahmen, schlecht für unser Vorwärtskommen. Wir übernachteten in eintausend Meter Höhe. Beim Aufbruch erlebten wir die ersten Graupel. Sie wurden rasch dichter. Der Wind holte aus zum Sturm. Eisige Schneeflocken peitschten uns in das Gesicht. Die Sicht schrumpfte auf zehn Meter zusammen – wir verloren wie die Orientierung. Albert und ich keuchten durch den Tiefschnee. Die Pferde gingen quer, der Hund zwischen den Pferden. Die Schneewehen wurden höher, der Stacheldraht der Kuhweiden gefährlich. Meine Hände waren weiß gefroren. Albert versuchte mit dem Kompass die Richtung nach Westen zu gehen. Unsere teure Ausrüstung hielt diesem Unwetter nicht stand. Wir waren tropfnass, von den Socken bis zum Schal. An einer Berghütte diskutierten wir über ein Notbiwak. Wir gingen aber weiter, versuchten talwärts zu gelangen. Es war aber kein Durchkommen und Verzweiflung machte sich breit. Albert holte nochmals die Karte hervor und versuchte sich neu zu orientieren. Wir wussten nicht mehr wo wir sind! Aus dem Nichts tauchte plötzlich ein roter Anorak auf. Ein Skilehrer. Wir waren im Bereich seiner Hausstrecke. Rasch brachte er uns talwärts auf eine Straße. Dort räumten Schneepflüge, LKW streuten Salz. Trotzdem war der Asphalt spiegelglatt. Zum Glück hatten die Hufeisen Stollen und griffige Widiastifte. Spät am Abend erreichten wir nach 32,5 km und 2584 Höhenmeter unser heutiges Ziel und waren fix und fertig.“
Doch so viele Unwägbarkeiten dieser Weg auch bereithielt – Kerstin und Albert Knaus hielten durch: „Nach 3233 km sattelten wir die Pferde zum letzten Mal. Wir ritten hinauf auf den großen Felsberg, der das Kap Finisterre darstellt. Hier waren wir am westlichsten Zipfel Europas – hier war bis zur Entdeckung Amerikas das Ende der Welt. Wir warfen einem alten Brauch zufolge alle von unseren Freunden von zuhause mitgegebenen Steinchen, Hufnägel und Münzen in den offenen Atlantik. Ihre geheimen Wünsche sollten dadurch in Erfüllung gehen.
Albert und ich saßen lange auf einem einsamen Felsen, den Blick weit über das unendliche Wasser auf den Horizont gerichtet. Lavella, Diabolo und der Hund Ferdinand empfanden die unheimliche Ruhe. Unsere Wünsche hatten sich erfüllt – wir waren am „Ende der Welt“!
Kerstin und Albert Knaus erlebten während ihrer 160-Tage-Reise Temperaturschwankungen zwischen – 5 Grad und plus 50 Grad, hatten in 130 verschiedenen Quartieren Unterkunft für Pferd und Reiter gesucht. Die Pferde fraßen in dieser Zeit 2200 kg Hafer und verbrauchten 24 Hufeisen.