Sprung in ein (fast) vergessenes Zeitalter
In Deutschland leben derzeit rund 1,3 Millionen Pferde und rund 900.000 Pferdebesitzer.
Dennoch spricht die Literatur davon, dass die Jahrhunderte der Pferde vorüber sind. Gemeint damit ist ihr klassischer Einsatz und ihre Bedeutung im Alltag beim Ziehen und Reiten, vor allem aber auch – leider – im Krieg. Seit Beginn der Geschichte zwischen Mensch und Pferd entstanden und fielen Reiche mit Ausrüstung und Vermögen von Ross und Reiter. Man denke dabei nur an die alten Griechen oder später die Mongolen. Kein Wunder, dass vor allem in der Kavallerie Wissen und Ausbildung von Reiter und Pferd eine lange Geschichte haben. Die Jahrhunderte lange Überlieferung und Weitergabe von Wissen, wurde in Deutschland beispielsweise in so genannten ‚Heeresdienstvorschriften’ niedergelegt.
Heutzutage sind Pferde meist im Freizeitbereich oder im Sport zu finden – schließlich werden ihre Fähigkeiten wie Geschwindigkeit, Wendigkeit und Kraft im Alltag nicht mehr oder kaum noch benötigt. Dennoch gibt es Menschen, die den ‚klassischen Einsatz’ unserer Vierbeiner nicht in Vergessenheit geraten lassen wollen. Ein Beispiel dafür ist das Working Equitation – eine der südeuropäischen Arbeitsreitweise nachempfundene relativ junge Sportart. Eine ganz andere Arbeitsreitweise und gleichzeitig ein internationales Turnier beobachtete und besuchte ‚Stallgeflüster’ in Thüringen. Der Deutsche Kavallerieverband e.V. ist ein Verein, der sich dem sportlichen, kavalleristischen Reiten in Deutschland verschrieben hat. Im thüringischen Crawinkel trug er seine IV. Internationalen Meisterschaften aus.
„Der eigentliche Zweck unserer heutigen Dressur- und Springausbildung war ursprünglich die vielfältige Leistung und Gewandtheit im dynamischen Gebrauchsreiten bei langer Gesunderhaltung der besonders gut ausgebildeten Pferde“, so der Verbandsvorsitzende Peter Lachenmayer. „Deshalb steht die Vermittlung und Wiederentdeckung des Gebrauchsreitens, wie es in Deutschland vornehmlich durch die Kavallerieregimenter in den vergangenen Jahrhunderten gepflegt und getragen worden ist, bei uns im Vordergrund. Unser vornehmliches Ziel ist die Ausbildung und Entwicklung von Kavallerie- und Campagnereiten auf besonders hohem Leistungsniveau, sowohl des Einzelreiters als auch der geschlossenen Formationen.“
So viel zu unseren Vorab-Informationen zu diesem Event. Danach erwarteten wir bereits ein gewisses militärisch anmutendes Ambiente – doch das Bild, das sich uns auf den schier endlos erstreckenden Flächen der ‚Thürengeti’ bot, übertraf alles, was wir erwartet hatten. „Der Deutsche Kavallerieverband ist auf keine Epoche festgelegt und deckt das breite Spektrum der Kavallerie von 1500 bis 1918 ab“, so hatte es uns Peter Lachenmayer bereits erzählt. Doch hier in Thüringen blitzte und blinkte es in allen Farben und Formen. Blaue, graue, braune Uniformen und Mäntel – wir fühlten uns um mehrere Jahrhunderte zurückversetzt. Und mitten drin, zu unserem Erstaunen, auch die eine oder andere zeitgenössische Uniform.
Ein derartiger, wie man es neudeutsch so hübsch sagt ‚Overkill’ an visuellen Eindrücken sorgte zunächst einmal für gehörige Verwirrung bei der ‚Stallgeflüster’-Redakteurin. Doch das sollte sich schnell ändern, schließlich traten die Aktiven nicht nur Einzeln, sondern auch in Gruppen auf. Rasch hatten wir herausgefunden, dass es sich bei den Einen um Ulanen handelte, bei den Anderen um Husaren oder Dragoner. Alle gekleidet in historisch korrekte Uniformen, teilweise sogar Originale, die oft nur noch im Museum zu besichtigen sind. Ein buntes Bild strahlte da in der leicht hügeligen aber weithin einsehbaren thüringischen Landschaft: Die leuchtend blauen Uniformen des Gardes de la Corps, mischten sich mit den graubraunen der Ulanen, denen der Sussex Yeomany aus Groß Britannien, denen der Schweizer Kavallerieschwadron, denen des Kürassier-Regiments Nr. 7 oder denen des Husarenregiments Nr. 19, um nur einige zu nennen. Helme blinkten, Schwerter oder Degen glitzerten und die Wimpel an den Lanzen flatterten im Wind.
Auch die Ausstattung der Pferde ist detailgetreu nach historischem Vorbild und der entsprechenden Vorschrift. Hier sieht man noch Original-Sättel aus der Zeit um 1900 oder sogar früher. Trensen und Kandaren entsprechen streng den alten Vorschriften zu den jeweiligen Uniformen – schließlich gehört zu diesem an die frühen Concours Hippques zwischen 1890 und 1914 angelehnten Turnier auch eine Ausrüstungskontrolle. Das heißt hier wird geprüft, ob die Uniform des Reiters korrekt ist, und vor allem: Ob das Pferd korrekt gesattelt, die Decke richtig gefaltet und der obligatorisch mitzuführende Futtersack hinten am Sattel korrekt befestigt ist, so dass nichts scheuern oder reiben kann. Denn schließlich stand die ‚Diensttauglichkeit’ d.h. die Gesundheit und das Wohlergehen des Pferdes im Krieg an erster Stelle. Nicht umsonst heißt es in einer alten Dienstvorschrift: „Oberster Grundsatz ist: ‚Erst das Pferd, dann der Mann!’“
Dabei nicht zu vergessen: Die meisten Pferde tragen zwar eine Kandare aber: Geritten wird nicht mit angenommenem Kandarenzügel, sondern 3:1, d.h. „Wir reiten mit angefasster Wassertrense und losgelassener Kandare“, erklärt uns Hartwig Lieb, der hier als Bayerischer Ulan unterwegs ist.
Die vom Kavallerieverband ausgeschrieben Prüfungen entsprechen den Anforderungen der alten militärischen Reitvorschriften, die nach dem ersten Weltkrieg den Namen HDv 12 bekamen. Dazu gehören u.a. im Kavallerie-Teil Prüfungen für Gruppen, sowie für Einzelreiter. Die Gruppenmilitary setzt sich zusammen aus einer so genannten ‚Gruppenbesichtigung’ bei der im ersten Teil eine Gruppenprüfung auf Kandare im Dressurviereck geritten wird. Danach erfolgt das ‚Gruppenexerzieren’ auf größerem Gelände in Trab und Galopp bei dem kavalleristische Formationsveränderungen beurteilt werden. Und an diesem Punkt erschließt sich uns Militär-Laien dann auch der Grund für die zeitgenössischen Militäroutfits hier auf dem Gelände: Nicht nur, dass die amerikanische Hubschrauberpilotin Bex Wottge zu den Aktiven gehört und – logisch – in ihrer Uniform mit reitet, nein, während die Dressuraufgabe von zwei FN-Richtern beurteilt wird, übernimmt Oberstleutnant Jens Wehner die Beurteilung des ‚Gruppenexerzierens’. Schließlich geht es hier um Effektivität und effiziente militärische Ausführung.
Jens Wehner zeichnet auch für einen weiteren Teil der Gruppen-Military verantwortlich: Den Geländeritt. Dieser geht über eine zehn Kilometer lange Strecke mit Hindernissen, den die Gruppe als Patrouille mit einem von Wehner geschriebenen Einsatzbefehl in einer vorgegebenen Zeit absolvieren muss. Bewertet wird nicht nur das Einhalten der vorgegebenen Zeit, sondern auch der Zustand der Pferde, die nach diesem Ritt voll einsatzfähig sein müssen. Weiterer Teil dieser Prüfung ist der Gehorsams-Teil, ähnlich einer Gelassenheitsprüfung, bei der die Pferde mit ungewöhnlichen Gegenständen oder Geräuschen konfrontiert werden. Nachdem alle Pferde und Reiter den Geländeritt, der an dem Truppenübungsplatz Ohrdruf vorbeiführte, wo sich die Reiter noch im Karabinerschießen messen durften, gut und ‚Einsatzfähig’ überstanden hatten – kein Pferd kam ‚pumpend’ oder klatschnass zurück – ging es weiter. Bei der ‚Gruppenprüfung Lanze’ galt es, als Patrouille zehn im offenen Gelände verteilte Hindernisgruppen mit jeweils vier Zielen zu treffen – eine Aufgabe bei der auch die Zeit zählte. Weitere Prüfungen auf dem Programm der Kavalleriemeisterschaften waren die Einzelmilitary sowie Tentpegging-Wettbewerbe.
Ebenso wie die Gruppenmilitary fordert auch die Einzelmilitary Ross und Reiter gehörig. Bestandteile dieser Prüfung waren das Karabinerschießen auf dem Truppenübungsplatz, ein Jagdspringen über zehn Hindernisse mit max. 80cm Höhe, bei dem der Stil im Leichten Sitz (nach Caprilli) bewertet wird. Für die Zuschauer spektakulär ist die Degen- oder Säbelprüfung. Dabei müssen auf gerader Bahn im Galopp Hieb- oder Stichziele getroffen werden – eine Aufgabe, bei der die Zeit zählt und so manchem Besucher der eine oder andere Schauer über den Rücken läuft, denn hier geht’s überaus rasant zu. Die Dressur-Prüfungen hat ‚Stallgeflüster’ leider verpasst – dennoch berichten die beiden FN-Richter Bruno Six und Rudolf Rüter, man habe hier Dressuraufgaben mit Schwierigkeitsgraden der Klasse M beurteilt.
Während die ‚Kavalleristen’ sich im Wettkampf messen, finden hier auf dem weiträumigen Gelände der Thürengeti noch weitere spannende und vor allem reiterliche Geschicklichkeit und Mut erfordernde Wettbewerbe statt: Tentpegging ist eine Sportart, die im 19. Jahrhundert von britischen Kolonialoffizieren in Indien ausgeübt wurde. Auf einer 100m langen Bahn muss dabei angaloppiert werden, mit der Lanze oder dem Säbel jeweils ein kleiner Holzpflock vom Boden aufgespießt und über die Ziellinie transportiert werden. Wer einen Holzpflock nur streift, oder unterwegs verliert, erhält Punkteabzug. In Thüringen konnten wir Wettbewerbe für Einzel-Reiter, Paare und solche mit vier Reitern beobachten. Spannend beim Vierer-Wettbewerb: Der erste Reiter muss den hintersten Pflock aufspießen, der danach den nächsten usw. Ein spannendes Schauspiel mit internationaler Besetzung – denn sogar aus Südafrika hatte sich eine Tentpegging-Mannschaft auf den Weg nach Deutschland gemacht.
Gegen Ende des Samstags, nachdem die Reiter ihre Wettbewerbe beendet hatten, zeigten Sie den Zuschauern noch einmal das breite Spektrum europäischer Kavallerie-Reiterei mit spektakulären Einsätzen. Und ganz zum Schluss wurde es richtig feierlich: Eine Parade, so, wie im 19. Jahrhundert, zu Kaisers Zeiten, zeigten die geschichts-affinen Reiter. Wieder ein buntes Bild mit historischen Uniformen, und der musikalischen Untermalung der Heide-Dragoner, die einzige berittene Bläsergruppe in Originalbesetzung, die zum krönenden Abschluss den Zapfenstreich blies.
Mit nicht weniger Gänsehaut-feeling als der Samstag endete auch der Sonntag. Hier gab es noch ein Jagdrennen über 1.200 Meter durch die Thürengeti zu sehen, bevor dann noch einmal die sorgfältige Ausbildung früherer Kavalleristen und ihre mutigen Manöver zu Pferd bewundert werden konnten.
Unser Sprung in dieses (fast schon) vergessene Zeitalter war ein Feuerwerk reiterlichen Könnens, einer Souveränität zu Pferde, von der manch einer heute nur träumt und gleichzeitig der Beweis, dass ‚ganz normale’ Pferde bei guter und ordentlicher Ausbildung ihrem Reiter punktgenau gehorchen. Da kann man nur wünschen, dass die Reiter, die sich dem klassischen Stil so verschrieben haben, wie die des Kavallerieverbandes, diesen auch weiterhin präsentieren und repräsentieren.
„Stallgeflüster“ / E. Stamm