Kinder an die Ponys
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ Das ist eine Erkenntnis, die sich inzwischen fast überall durchgesetzt hat.
Dementsprechend haben sich im Lauf der Zeit auch die Ausbildungskonzepte für Kinder deutlich verändert – eine Wandlung, die auch vor dem Reitsport nicht halt macht.
Zum Thema Kinder im Reitunterricht stellt die FN fest: „Kinder befinden sich im Gegensatz zum Erwachsenen noch im Wachstum, daher sollten die Trainingsinhalte bezüglich der Belastung und Konzentrationsfähigkeit an den jeweiligen Alters- und Entwicklungsstand angepasst werden. Sie sind lebensfroh, spontan zu sozialen Kontakten bereit, neugierig, wissbegierig und zeichnen sich durch einen hohen Bewegungsdrang aus.“
Entsprechend dieser Erkenntnisse haben sich die Konzepte für den Kinderreitunterricht grundlegend verändert. Wurden vor noch 30 bis 40 Jahren kleine Kinder zunächst zum Voltigieren geschickt und die ‚Großen’ zwischen 10 und 12 in einen ernsthaften Reitunterricht eingegliedert, liegt der Schwerpunkt heute „in erster Linie auf spielgemäße(m) Training. Kindgemäße(n) Spiel- und Übungsformen mit und auf dem Pferd. Durch vielseitige Trainingsmittel (soll) die ganzkörperliche und gesunde sportliche Entwicklung (gefördert werden), und ist orientiert auf die Einheit von technischer und ‚sozialer’ Ausbildung. Es gibt im Reitsport kein reines Techniklernen ohne den Einbezug des Partners Pferd und dessen Bedürfnisse.
(Reiten) wirkt sozialisierend, weil nicht nur der Umgang mit dem Pferd gesellschaftliche Normen, Regeln und Verhaltensmuster übt, sondern auch das Gruppentraining sichert positive Erlebnisse, ist freudbetont und erlebniswirksam und verläuft in herzlicher, liebevoller und aufgeschlossener Atmosphäre.“ So die Deutsche Reiterliche Vereinigung grundsätzlich zum Thema Kinder und Reitunterricht. Doch damit nicht genug: Es gibt auch ausreichend Tipps und Lehrgänge für Trainer, um den Kinderunterricht entsprechend abwechslungsreich und kindgerecht zu gestalten. Hinzu kommt natürlich immer auch die Forderung nach dem ‚passenden Partner Pferd’. Und das sind – aufgrund der Größenverhältnisse – natürlich Ponys. Neu ist die Einführung eines Pilotprojektes, die Ausbildung zum Trainer C Reiten Basissport mit dem Schwerpunkt Kinderreitunterricht.
Einen ersten Lehrgang dieser Art startete die Landesreitschule Dillenburg in Kooperation mit dem Kinderreitzentrum Ulrike Mohr in Bensheim. Da das Kinderreitsportzentrum bereits seit Jahren Erfahrungen mit Kindern hat und Ulrike Mohr der Nachwuchs besonders am Herzen liegt, besuchte ‚Stallgeflüster’ die Anlage in Bensheim.
Bereits bei unserer Ankunft auf dem großen Parkplatz des Aussiedlerhofs begegnen uns die ersten kleinen Vierbeiner auf den Koppeln – Ponys sind es, mit einer Größe von rund 60 cm Stockmaß. Auf dem Hof selbst herrscht trotz des trüben Nieselwetters emsiges Treiben: Hier werden gerade die Stallwände in Eigenarbeit neu gestrichen – eine Aufgabe, die allen Beteiligten viel Spaß zu machen scheint. Auf einem Tisch stehend finden wir Ulrike Mohr, die gerade einem Kind geduldig zeigt, wie man richtig streicht.
„Jetzt ist es hier noch ruhig“, meint sie. „Sie sollten mal den Nachmittag sehen, da sind dann rund 100 Kinder hier auf dem Hof.“ Das ist eine beeindruckende Zahl für uns – aber schließlich ist hier Platz genug, sogar einen richtigen Spielplatz gibt es. Und der Hof erinnert mehr an einen Kindergarten als an eine Reitanlage im klassischen Sinn: Viele Wände der Stallungen sind mit großen Postern der kleinen Reiter verkleidet, bunte Pferdeskulpturen vermitteln trotz des tristen Wetters ein fröhliches Ambiente. Kinder liegen der Pferdewirtschaftsmeisterin besonders am Herzen: „Früher auf dem Land sind wir mit den Tieren und der Natur aufgewachsen. Der Umgang mit Lebewesen gehörte für uns zum Alltag – den brauchten wir nicht großartig erlernen. Heute leben viele Kinder ohne Kontakte zu Tieren oder der Natur, sind oft mediengesteuert und teilweise motorisch nicht fit. Mein Ziel ist es, möglichst vielen Kindern den Zugang zum Pony zu ermöglichen. Dabei steht nicht im Vordergrund, dass sie einmal perfekte Reiter werden. Ich möchte sie zu Pferdemenschen erziehen, die das Verhalten, die Bedürfnisse und die Eigenheiten der jeweiligen Tiere erkennen und verstehen lernen. Dazu gehört auch ein respektvoller und sozialer Umgang miteinander.“
Rund 29 feste und freie Mitarbeiter, darunter eine fest angestellte Erzieherin und eine Pädagogin, kümmern sich in Bensheim um die Kids und ihre Mütter bzw. Väter. Einige von ihnen finden auf diese Art und Weise oft selbst einen Zugang zum Pferd und wollen dann teilweise selbst das Reiten erlernen. „Damit haben Kind und Elternteil ein gemeinsames Projekt. Das hilft vielleicht dem einen oder anderen auch einmal über familiäre Schwierigkeiten hinweg“, kommentiert Mohr dieses Angebot an die Erwachsenen.
Trotz vieler spielerischer Aktivitäten kommt auch der so genannte ‚ernsthafte Sport’ nicht zu kurz. Dafür gibt es eine Turniergruppe. Und damit die Trainer, die immerhin 100 Kinder pro Nachmittag beaufsichtigen, immer motiviert sind, gibt keiner von ihnen mehr als vier Reitstunden täglich – bemerkenswert findet ‚Stallgeflüster’.
Ähnliche Ansätze für die Nachwuchsförderung wie in Bensheim gibt es einige, u.a. auch von Team Pony Concept® in Langgöns. Auch in Nicole Holland-Nells reitpädagogischem Unterrichtskonzept für zwei bis neunjährige liegt der „Schwerpunkt auf dem Pony als Partner und Lebewesen. Für die Kinder soll erlebbar und erfahrbar werden, dass jedes Pony ein ganz individuelles Lebewesen ist. Die Kinder lernen welche Bedürfnisse Ponys haben und dass der Mensch dafür verantwortlich ist, dass es den Ponys gut geht.“
Die Konzepte und Ansätze der FN und der privaten Einrichtungen weisen also auf einen bemerkenswerten gesellschaftlichen Wandel hin, der sich nicht nur in der Großstadt sondern auch in ländlichen Regionen bemerkbar macht: Während früher der Schwerpunkt auf ‚Reiten’ als technischem Können lag, müssen die vielfach medial gesteuerten Kinder von heute das Tier erst als Lebewesen und sozialen Partner kennen und erleben lernen – eigentlich doch schade, meint ‚Stallgeflüster’.
„Stallgeflüster“ / Elke Stamm