Russlands Stolz oder grausame Tradition?
Wenn die russische Troika aus Orlow-Trabern ihre Show-Fahrt beendet, bricht tosender Jubel auf den Tribünen aus.
Die Reaktion ist nachvollziehbar, es ist immer wieder ein faszinierendes Schauspiel. Die Hufen des Mittelpferdes berühren kaum den Boden, das Pferd scheint fast zu fliegen, und die Nebenpferde mit stark nach außen gebogenen Hälsen galoppieren, der Lenker ist festlich gekleidet, russische Musik ertönt und die Schellen klingeln – die Herzen der Zuschauer stehen still. Es scheint, als ob ein Blumenstrauß durch die Rennbahn laufe.
In der Regel besteht die Troika nur aus russischen Trabern. Im Laufe ihrer 250-jährigen Geschichte stand die russische Orlow-Traber-Rasse mindestens zweimal vor dem Aussterben. Und jedes Mal wurde sie von loyalen und treuen Menschen gerettet.
Erst möchten wir Sie aber einmal zu einer kleinen Zeitreise zu der Entstehung der Orlow-Traber-Rasse einladen. Im Morgengrauen des 28. Juli 1762 verließ eine prunkvolle Kutsche Petershof und raste in Richtung St. Petersburg. Zusammen mit einem Kutscher auf dem Kutschbock saß der Graf Orlow-Chesmenskiy (1737–1808). Im Inneren der Kutsche war die zukünftige Zarin Russlands Katharina die Große zu sehen, die sich heute im Beisein der Garderegimenter auf den Thron erheben sollte. Mitten auf dem Weg hielten die schönen Vertreter der neapolitanischen Rasse völlig übermüdet an. Die Reisenden befanden sich in der Klemme. Die Zeit war knapp. Der Graf nahm einem Bauern seine Pferde weg, so fuhren die Reisende weiter. Die Ankunft der zukünftigen Zarin mit den Bauernpferden war amüsant, aber rechtzeitig. Das Geschehen gab dem Graf Orlow-Chesmenskiy den Anstoß, ein ausdauerndes Pferd zu züchten, das dem rauen russischen Klima standhalten konnte und schwere Wagen lange Strecken im stabilen Trab ziehen würde.
Der erste Stein in der Geschichte der Entstehung der neuen Rasse war der arabische Hengst Smetanka, der seinen Namen wegen seiner silberweißen Farbe erhalten hatte. Der Graf erwarb ihn bei einem türkischen Sultan für eine fabelhafte Summe von 60.000 Rubel. Bis heute ist Smetanka das teuerste Pferd in der russischen Geschichte. Der Hengst überlebte nur eine einzige Decksaison, hinterließ vier Söhne und eine Tochter. Von dem Sohn Polkan I und einer friesischen Stute wurde der Schimmelhengst Bars I gezeugt, der dem Wunschpferd des Grafen ganz nah war. Er war dazu bestimmt, Stammvater der Orlow-Traber-Rasse zu sein. Graf Orlow-Chesmenskiy veredelte, rundete, trocknete weiter die Formen der Nachwuchsen durch englisches und arabisches Blut. „Jetzt sieht sein Orlow-Traber so aus wie ein elegantes arabisches Pferd, wenn man es durch die Lupe betrachtet“, schrieb Vasilii Koptjeff, einer der größten Kenner der Orlowrasse.
Als spezielle Zuchtleistungsprüfungen für Wagenpferde veranstaltete Graf Orlow-Chesmenskiy 1775 in Moskau die ersten Trabrennen, an denen er persönlich teilnahm. Weil seine Pferde fast immer gewannen, wurde der Begriff „Orlow-Traber“ zu einem integralen Bestandteil des Rassenamens. Nach der Regel des Rennens durfte jeder Teilnehmer nur das russische Geschirr verwenden so sollten die Pferde selbstbewusst traben. Der Übergang zum Galopp wurde vom Publikum verspottet und ausgebuht, die Pferde wurden disqualifiziert. Graf Orlow-Chesmenskiy schuf eine spezielle Renndroschke, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet wurde. Für einige Zeit war der Orlow-Traber die schnellste Traberrasse der Welt.
Die russische Troika als Hauptverkehrsmittel auf Russlands Straßen entstand Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie ist bis heute ein einzigartiges Gespann mit einem unverkennbaren Fahrstil geblieben. Ein Wagen oder Schlitten wird von drei edlen, nebeneinander geschirrten Pferden gezogen. Unter einem bunt bemalten Holzbogen, „Duga“ genannt, bewegt sich das an eine Deichsel eingespannte Mittelpferd in scharfem Trab. Derweil galoppieren die zwei an Beispannen geführten Seitenpferde nebenher, das rechte im Links-, das linke im Rechtsgalopp. Die Geschwindigkeiten erreichen bis zu 50 Kilometer pro Stunde.
Erste Troika-Turniere wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts veranstaltet. Sie dauerten zwei Tage und zogen massenhaft Zuschauer an. Am ersten Tag zeigten die mit Bändern und Schellen geschmückten Pferde eine Show-Fahrt. Bewertet wurden die Schönheit des Gespanns sowie Gangqualitäten, Harmonie, Farben und Temperament der Pferde.
Am zweiten Tag begann das eigentliche Rennen. Die Troikas wurden von einem Lenker und zwei Helfern geführt: Der Hauptlenker war für das Mittelpferd verantwortlich, die beiden Helfer jeweils für ein Nebenpferd. Unter guter Führung konnte das Gespann Geschwindigkeiten eines Galopprennpferds erreichen.
Die Revolution von 1917 beendete jäh die Glanzzeit der Troika-Rennen. Heute liegen sie wieder im Trend. In den 1990er Jahren gründete Frau Polzunova Vereinigung „Gemeinschaft“ und veranstaltete die erste Troika-Rennen nach langer Zeit.
Der Zusammenstellung eines guten Gespanns sei eine echte Meisterleistung, behauptet Viktor Weiß, nachdem er ein viertel Jahrhundert Erfahrung mit Reiten und Lenken der Troikas gesammelt hat. Die Pferde werden nach Farbe, Exterieur und Geschlecht ausgesucht, auch müssen sie in Gangart und Temperament harmonieren. Das Mittelpferd muss stürmisch und kraftstrotzend sein, in Widerrist 5 bis 10 Zentimeter größer als die Seitenpferde. Anderenfalls gerät es aus dem Takt. „Damit sich die Pferde aneinander gewöhnen können, bringen wir sie in benachbarten Boxen unter, stellen sie zum Grasen gemeinsam auf die Wiese und reiten sie zusammen“, erzählt Andrej Koragin, die rechte Hand von Viktor Weiß. Allmählich gewöhnen die Reiter ihre Pferde an das Geschirr und die Kutsche: Sie spannen zuerst jedes Seitenpferd einzeln mit dem Mittelpferd vor den Wagen, bis dann alle drei zusammen in der Troika laufen.
Gern spricht der Lenker von der Troika als Russlands „Stolz und Symbol“.
Aber russische Tierschützerin Olga Grischko nennt die Troika eine Tierquälerei, die aus historischen Notwendigkeiten entstand und als Teil der nationalen Kultur erhalten blieb. „Dass die Hälse und Köpfe der Seitenpferde permanent nach außen gezogen werden, führt zu Überanstrengungen und Muskelzerrungen, Deformierungen der Halswirbel und der Bandscheiben. Später breiten sich diese Schäden auch auf den Rest der Wirbelsäule aus. Als Folge bekommen die Pferde eine Atemdepression.“ Nicht weniger schwer trifft es das Mittelpferd. „Durch den Zwang, den Kopf hoch zu halten, entstehen Schmerzen im Ober- und Unterkiefer, die zu dem hysterischen Eifer beitragen, den das Pferd zeigen soll“, sagt Olga Grischko wütend. „Das einzige Erbe Russlands wird in diesen drei durch unerträglichen Schmerz des Verstands beraubten Pferden gesehen? Die Troika ist kein Grund, stolz zu sein.“
Den Weihnachtsmann kümmert das nicht. Jedes Jahr Ende Dezember rast er mit der Troika durch Russland. Diese wilde Fahrt kündigt das Neujahr an, und wird traditionell von einem schönen Schlitten, klingenden Schellen und drei Orlov-Trabern begleitet.
Text: Natalia Toker
Fotos: Anna Rakhmanina, Alexander Toker