Das weiße Sachsenross
Das weiße Ross im Wappen der Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zählt schon über 600 Jahre. Ihr habt euch vielleicht schon einmal gefragt, wie das weiße Pferd eigentlich auf die Wappen gekommen ist.
Laut einer Statistik der Deutschen Wappenrolle tritt das Pferd in den Wappen 1570 Mal auf und ist eines der häufigsten Wappentiere. Das springende oder stehende, steigende oder liegende Pferd mit Reiter oder ohne Reiter, mit Zaumzeug oder ohne Zaumzeug dient dem Menschen als Symbol der Freiheit, des Schutzes und der Kraft.
Germanen verehrten die weißen Pferde seit den antiken Zeiten und nutzten sie als ihr Orakel. „Eine Kutsche wurde von den weißen Pferden gezogen und von einem Priester und einem Stammesführer begleitet. Sie achteten auf das Wiehern und Schnauben der heiligen Schimmel. Es gab keinen größeren Glauben an ein Omen als an dieses“, schrieb der römische Historiker Public Kornelij Tacitus (ca. 58–120 nach Chr.) in seinem Werk „Germania“.
Im Jahr 449 landeten unter dem Zeichen des weißen Pferdes die zwei sächsischen Führer Hengist und Horsa an der Küste der heutigen Grafschaft Kent – so lautet zumindest eine Legende. Aufgrund dieser Legende wurde lange Zeit angenommen, dass das weiße Pferd bereits im 5. Jahrhundert im Wappen des alten Sachsen war.
Ein weiterer Mythos erzählt, das weiße Pferd stamme als heraldisches Symbol von Widukind (755–807 n. Chr.), dem letzten heidnischen König der alten Sachsen. Nachdem Karl der Große den sächsischen Krieg (772–804) gewonnen hatte, ließ er die Sachsen in der Weser taufen, ersetzte das schwarze Pferd Widukinds auf dem gelben Untergrund durch ein springendes weißes Pferd auf rotem Feld und proklamierte Widukind zum Herzog von Sachsen. „Auf solche Weise konnten einige Herzöge von Niedersachsen das weiße Pferd von ihren Vorfahren erben“, so der deutsche Historiker Gobelin Person (1358–1421).
Das klingt zwar interessant, aber das Problem liegt darin, dass die Altsachsen kein Wappen in der Zeit Widukinds haben konnten, weil die ersten Wappen erst im 12. Jahrhundert in Europa entstanden. Entsprechend sind keine Wappen auf den früheren Bildern von Rittern und von Schlachten zu sehen. Und überdies erschien die gedruckte Legende über das weiße Pferd im Widukinds Wappen erst 1495 in der „Chronik von Sachsen“.
Das erste Dokument, das die Verwendung des weißen Pferdes als Symbol der Dynastie Welfe bestätigt, ist ein schwarz-weißer Abdruck des Stempels vom Herzog von Braunschweig-Grubenhagen Albrecht I. aus dem Jahre 1361. Am Rand des Stempels ist eine Inschrift zu sehen: „Der geheime Stempel von Albrecht I., dem Herzog von Braunschweig“. In der Mitte steht anstelle des traditionellen goldenen Löwen ein Pferd mit gehobenem rechtem Vorderhuf. Mit diesem cleveren Trick verkündete Herzog Albrecht I. dokumentarisch das Recht der Welfendynastie auf das ganze Sachsenland. Das heißt, das weiße Pferd verwandelte sich aus einem Volkssymbol in ein dynastisches Zeichen der Herrschaft.
Alle folgenden Dynastien vom 15. bis 17. Jahrhundert nahmen das weiße Ross in ihre Heraldik auf, dennoch verwandten sie es traditionell als das Symbol des sächsischen Stammes. So wurde im Jahr 1649 ein springendes Pferd statt des herzoglichen Porträts auf die Vorderseite des Talers geprägt, auf der Rückseite war das herzogliche Wappen abgebildet, sodass das weiße Ross zu einem weitverbreiteten Sinnbild wurde. Zudem verwandelte sich im 19. Jahrhundert das Welfenross in das Sachsenross.
1814 kam das Sachsenross auf das Wappen des Königreichs Hannover (ab 1866 die Provinz des Königreichs Preußen), 1815 wurde es zum Wappentier der preußischen Provinz Westfalen und 1922 des Landes Braunschweig. Bildhauer Albert Wolf schuf sogar für König Georg V. von Hannover eine eindrucksvolle Statue des Sachsenrosses, die seit 1879 vor der Gottfried-Wilhelm-Universität Hannover, dem ehemaligen Welfenschloss, steht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Provinz Hannover in ein unabhängiges Bundesland mit einem weißen Pferd auf dem Wappen umgewandelt. Das unabhängige Braunschweig wollte das weiße Pferd auf rotem Grund als heraldisches Tier auch haben. Zum Glück wurde alles friedlich gelöst: Beide Bundesländer bildeten zusammen mit Oldenburg und Schaumburg-Lippe das neue Bundesland Niedersachsen. So ist seit 1951 das Niedersachsenross ein vereinendes Symbol mit langer Tradition für ganz Niedersachsen. Nordrhein-Westfalen hat auch ein eigenes weißes Pferd – das Westfalenpferd, das den Landesteil symbolisiert. Das Westfalenpferd und das Niedersachsenross haben eine gemeinsame Geschichte und nur einen einzigen Unterschied: Das Niedersachsenross hat einen flatternden Schweif, das Westfalenpferd trägt den Schweif immer nach oben.
Auch die benachbarte niederländische Region Twente und die britische Grafschaft Kent tragen dieses Motiv auf ihren modernen Wappen.
Die Geschichte des Niedersachsenrosses hat auch eine Fortsetzung. 1990 wollte Gerhard Schröder als Ministerpräsident das Landeswappen modernisieren. Seiner Meinung nach taugte das Wappentier nicht länger als Symbol einer modernen Regierung. Als dann im Frühjahr 2003 Christian Wulff in Hannover die Zügel übernahm, kam das alte Landeswappen wieder zurück.
Bleibt jedoch eine schwierige Frage: Was ist das Wappenpferd für eine Rasse? Diese Frage löste weitere Diskussionen aus. Die Züchter und Pferdefans der Hannoveraner hoffen, es könnte um einen frühen Hannoveraner gehen. Ein Züchter der Knabstrupper aus dem Landkreis Emsland vermutet, dass seine Tiere die Nachkommen der weißen Sachsenrosse seien. Professor Johann Schäffer, Chef des Fachgebiets Geschichte der Tiermedizin an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover, kam zu einem anderen Ergebnis: Es handelt sich um echte Weißgeborene aus der Memser-Zucht, welche Jahrhunderte lang in der Gemeinde Hoyerhagen gezüchtet wurden. Das letzte echte Pferd dieser Rasse starb im Jahr 1895. Die meisten Teilnehmer der Diskussion sind überzeugt, dass es Rassen als solche zur Zeit der Entstehung des Wappens nicht gab. Es gab urtümliche, bodenständige, frei und wild lebende Pferde in der Gegend. Diese dürften so ähnlich wie die Dülmener, Konik und Ähnliche ausgesehen haben.
Wer recht hat oder nicht, können wir nicht beurteilen. Die Wahrheit ist einzig, dass das alte stolze Ross bis heute im Wappen der Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen prangt.
Natalia Toker